Papst Franziskus entfaltet Vision eines jungen Europas mit gerechterer Flüchtlingspolitik

Straßburg. Zurückhaltend, fast schüchtern betritt Papst Franziskus die Bühne des Europarates, empfangen von Applaus der Delegierten aus den 47 Mitgliedstaaten. Am Rednerpult neben Europa- und Vatikanflaggen nutzt er die zweite Etappe seines Europa-Kurzbesuchs in Straßburg, um die Vision eines kraftvollen, der Zukunft zugewandten Kontinents zu entfalten, der sozial gerecht ist, Flüchtlinge aufnimmt, Arbeitslosen ihre Würde zurückgibt und Jugendlichen Perspektiven eröffnet.

„Ich habe den nachdrücklichen Wunsch, dass eine neue soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit entsteht, die frei ist von ideologischen Bedingtheiten und der globalisierten Welt zu begegnen weiß, indem sie den Sinn für Solidarität und gegenseitige Liebe lebendig erhält“, ruft der Papst den Delegierten im bis auf den letzten Platz besetzten weiten Rund zu. Zu oft herrsche heute das Bild eines müden, pessimistischen Europa vor, das sich von den gegenwärtigen Krisen überfordert fühle. Aufwecken will er Europa.

Oft steht der Europarat im Schatten der EU-Institutionen, die in der Europastadt Straßburg nur wenige hundert Meter entfernt residieren. Doch Franziskus ist jede Geringschätzung fremd. Im Gegenteil: Er würdigt die große Bedeutung des 1949 gegründeten Europarates für Frieden und Verständigung. Seine wohl bekannteste Institution, den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, lobt der Papst als zentrales Gewissen Europas, das es weiterzuentwickeln gelte. Auch die Richter in ihren festlichen Roben hören dem Papst an diesem Dienstag aufmerksam zu.

Von entscheidender Bedeutung für ein erfolgreiches Europa der Zukunft ist für den Papst ein neuer, intensiverer Dialog zwischen Generationen, Staaten und Kulturen. Es brauche einen neuen Aufbruch, denn ein Dialog, der nur innerhalb der je eigenen politischen, religiösen oder kulturellen „Organismen“ stattfinde, bleibe letztlich unfruchtbar.

Und genau hier kommt, so ist das Kirchenoberhaupt überzeugt, dem Christentum eine große Bedeutung zu. Für ihn steht fest, dass Vernunft und Glaube, Religion und Gesellschaft berufen sind, „einander zu erhellen, indem sie sich gegenseitig unterstützen und, falls nötig, sich wechselseitig von den ideologischen Extremismen zu läutern, in die sie fallen können“. Europa könne von einer „neu belebten Verbindung zwischen den beiden Bereichen nur Nutzen ziehen“ – sei es im Kampf gegen religiöse Fundamentalismen, sei es in der Debatte um heikle ethische Fragen wie bei einer Regelung des wissenschaftlichen Fortschritts oder beim Lebensschutz, so Franziskus. Ein Themenfeld, das an gleicher Stelle vor 26 Jahren bereits Papst Johannes Paul II. (1978–2005) angemahnt hatte. Dessen Rednerpult in den Vatikanfarben Gelb und Weiß war eigens am Dienstag aus dem Straßburger historischen Museum geholt und im Foyer aufgestellt worden.

In seiner eindringlichen Rede forderte Franziskus, der Papst aus Argentinien, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Europa solle sich von seiner derzeitigen Kultur des Konsums und Überflusses verabschieden und sein historisches Erbe neu entdecken. Nur so könne es in offenem Dialog über die Generationen- und Kulturschranken hinweg, „jene geistige Jugend wiederfinden, die es fruchtbar und bedeutend gemacht hat“.

Wie von Beobachtern schon erwartet, machte Franziskus zuvor vor dem Europaparlament die europäische Flüchtlingspolitik zu einem seiner wichtigen Themen. Er findet klare Worte: „Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird.“ Nötig sei eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Länder in Flüchtlingsfragen. Der Papst ist überzeugt, dass Europa seine Migrationsprobleme lösen kann – wenn es Gesetze erlässt, die die Europäer und ihre kulturelle Identität sowie die Migranten gleichermaßen schützen.

Scharf verurteilt Franziskus eine „Politik der Eigeninteressen“ Europas gegenüber den Herkunftsländern, die die Fluchtursachen nährten statt beseitigten. Die EU-Parlamentarier sind durchaus einverstanden mit den Papst-Worten, sie applaudieren. Die restriktive EU-Flüchtlingspolitik geht nicht in erster Linie auf das Parlament zurück, sondern auf die Regierungen einzelner europäischer Länder. Das Parlament fordert beispielsweise schon lange einen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge in Europa.

Die Menschenwürde ist ein wichtiges Motiv in der Rede des Papstes. Franziskus geißelt auch die „Wegwerf-Kultur“ und den „hemmungslosen Konsumismus“ der heutigen Zeit. Auch kritisiert er, dass Menschen „ohne viel Bedenken ausgesondert“ würden – etwa Kranke im Endstadium, Pflegebedürftige oder ungeborene Kinder. Zu einer Störung wie bei der Papst-Rede im Jahr 1988 kam es diesmal nicht: Damals hatte der Abgeordnete Ian Paisley Johannes Paul II. durch „Antichrist“-Rufe unterbrochen. In EU-Kreisen kursierte seither das Gerücht, dass deshalb so lange kein Papst mehr kommen wollte.