Straßburger Richter: Asylbewerber dürfen nur noch in bestimmten Fällen nach Italien zurückgeschickt werden

Berlin/Brüssel. Ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könnte nach Einschätzung der EU-Kommission weitreichende Konsequenzen „für das Funktionieren des Asylsystems in Italien und in der EU“ haben. Kippt jetzt das EU-Asylsystem? Kommt eine neue Flüchtlingswelle auf Deutschland zu?

In seinem Urteil legte die Große Kammer des Menschengerichtshofs fest, dass EU-Mitgliedstaaten Flüchtlinge nur dann noch nach Italien zurückschicken dürfen, wenn das Land den betroffenen Migranten persönlich garantiert, dass ihre Rechte – etwa zur gemeinsamen Unterbringung einer Familie oder einer angemessenen Betreuung für Kinder – auch tatsächlich eingehalten werden. Damit dürfte es deutlich schwerer werden für Mitgliedsländer der Europäischen Union, Flüchtlinge, die in Italien angelandet, dann aber in andere EU-Länder wie Deutschland, Schweden, Belgien, Luxemburg, Frankreich oder Malta weitergezogen sind, wieder nach Italien zurückzuschicken. Seit Januar 2011 sind bereits auch Rückführungen nach Griechenland wegen der aus Sicht des Gerichtshofs teilweise menschenunwürdigen Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge praktisch unmöglich.

Konkret hatte der Gerichtshof in Straßburg entschieden, dass ein afghanisches Ehepaar mit seinen sechs Kindern nicht einfach aus der Schweiz nach Italien abgeschoben werden dürfe. Voraussetzung für eine Rückführung sei vielmehr, dass Italien im Einzelfall garantiert, dass nicht gegen Artikel 3 zum Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen werde. Die teilweise katastrophalen Bedingungen für Asylbewerber in Italien sind Brüssel seit Jahren ein Dorn im Auge. Die EU-Kommission hat deswegen bereits drei Vertragsverletzungsverfahren am Europäischen Gerichtshof eingeleitet. Die innenpolitische Sprecherin der christdemokratischen Mehrheitsfraktion (EVP) im EU-Parlament, Monika Hohlmeier (CSU), sagte: „Italien muss mit dem Getöse über zu große Belastungen durch Flüchtlinge aufhören und endlich damit beginnen, ein funktionierendes und menschenwürdiges Asylsystem im eigenen Land aufzubauen.“ Die Regierung in Rom verweigere seit Jahren eine Umsetzung des europäischen Asylrechts. „Es gibt in Italien gravierende Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen. Es ist auch nicht länger hinnehmbar, dass ein Land wie Italien mit 60 Millionen Einwohnern nur 9000 Plätze zur Unterbringung von Asylbewerbern hat.“

Des Chef des Bundestag-Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), sieht jetzt Brüssel in der Pflicht: „Die EU muss nach dieser Entscheidung dringend dafür sorgen, dass bei der Aufnahme von Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten verbindliche Mindeststandards im Asylverfahren eingehalten werden.“ Dies gelte sowohl für die Aufnahme und Unterbringung wie auch „in dem förmlichen Aufnahmeverfahren“. Bosbach weiter: „Solange es Länder gibt, die – wie auch Griechenland – diese Mindeststandards nicht einhalten und deswegen eine Rückführung der Flüchtlinge in diese Länder aus Rechtsgründen nicht möglich ist, wird das Dublin-Abkommen für diese Staaten faktisch außer Kraft gesetzt.“ Laut Innenexpertin Hohlmeier dürfte das Urteil aber nicht zu einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland führen. „Deutschland schiebt schon seit Jahren nur noch in sehr eingeschränkten Fällen Flüchtlinge wieder nach Italien ab, weil die deutschen Behörden um die Probleme dort wissen.“ Hinzu kommt: Diverse deutsche Gerichte haben Abschiebungen nach Italien untersagt – wegen „schwerwiegender Defizite“ des italienischen Asylsystems. Die EU-Abgeordnete Ska Keller (Grüne) hatte sich vor wenigen Wochen bei einem Besuch auf Sizilien ein Bild über die Situation von Flüchtlingen machen können. Keller: „Ich besuchte eine Einrichtung für minderjährige Flüchtlinge, die ohne Begleitung aus ihren Heimatländern in Italien angekommen waren. Sie hausten in einer alten, heruntergekommenen Schule. Rund 20 Kinder waren in einem Klassenraum mit Feldbetten untergebracht. Sie klagten, zu wenig zu essen zu bekommen. Die Anlage für die Minderjährigen war nachts nicht einmal richtig geschützt.“

In der EU gilt nach der sogenannten Dublin-III-Verordnung eigentlich das Prinzip, dass jeweils das Land zuständig ist, über das der Asylsuchende in die EU eingereist ist. Das heißt, Flüchtlinge, die in einem anderen Land Asyl beantragen, werden wieder in jenes EU-Land zurückgeschickt, in dem sie europäischen Boden betreten haben. Die Verordnung kommt auch in dem Nicht-EU-Staat Schweiz zur Anwendung. Nach Griechenland und Italien kommen viele Flüchtlinge aus Nordafrika. Sie erreichen die Länder mit Booten über das Mittelmeer. Nach Ansicht von Keller kann man aber „die Verantwortung nicht nur auf die Südländer abschieben“. „Das neue Urteil des Menschengerichtshofs ist ein weiterer Schlag ins Gesicht des gesamten Dublin-Systems. Es wird dadurch weiter geschwächt.“

Notwendig sei nun eine „grundlegende Reform des gesamten EU-Asylsystems“. Dabei sollten die „Bedürfnisse der Flüchtlinge“ im Vordergrund stehen. „Es darf nicht darauf ankommen, in welchem Land EU-Land ein Flüchtling ankommt, sondern was am besten für ihn ist. Ein Flüchtling, der Französisch spricht, sollte nicht in Griechenland bleiben müssen, nur weil er dort zuerst angelandet ist. Außerdem sollten Familien wegen der EU-Gesetze nicht auseinandergerissen werden.“ Die Mehrheit der EU-Staaten ist allerdings gegen ein neues Verteilungssystem für Flüchtlinge. Die Debatte kocht seit Jahren. Gerade Italien klagt immer wieder über eine hohe Zahl von Flüchtlingen und große finanzielle Belastungen.