EU-Mission Triton löst Italiens Operation Mare Nostrum ab. Grenzsicherung rangiert dann vor Flüchtlingsrettung

Mailand. Erst fällt die Steuerung aus. Dann der Motor. Und schließlich dringt das Wasser ein. Im ganzen Boot breitet es sich aus. Immer höher steigt es. Dschako aus Mali und die anderen 150 Passagiere bekommen Panik. Erschöpft und übermüdet sind sie. Vor Tagen sind sie in Libyen in See gestochen. Mit dem Ziel Europa. Auf engstem Raum saßen sie dicht an dicht. Gegessen und getrunken haben sie so gut wie nichts. Dschako hat sich ein paar Kekse und ein bisschen Wasser mitgenommen. Das Boot ist am Kentern. Irgendwo im Mittelmeer. „Wir dachten alle, jetzt müssen wir sterben“, sagt Dschako. Just in dem Augenblick tauchen am Horizont Schiffe auf. Große Schiffe. Immer näher kommen sich. Schlauchboote werden herabgelassen und schießen durch die Fluten. Menschen in Uniformen werden sichtbar. Sie ziehen Dschako und die anderen aus dem Wasser.

Menschen in Uniformen. Das ist die italienische Marine. Mare Nostrum heißt die gigantische Hilfsoperation in der Meerenge von Sizilien. Am 18. Oktober 2013 ging es los. Mit Korvetten, Fregatten, Amphibienfahrzeugen und Helikoptern. Mit im Schnitt täglich 900 Männern und Frauen. Auf einem Gebiet von 70.000 Quadratkilometern. Die Jahresbilanz ist erstaunlich: Knapp 151.000 Menschen wurden im Rahmen von mehr als 420 Einsätzen gerettet. Der 18-jährige Dschako, der heute sechs Monate nach seiner Bergung in einem Flüchtlingsheim in Caltanissetta auf Sizilien untergebracht ist, ist einer von diesen 151.000. Doch werden Dschakos Nachfolger, die auf Barkassen die gefährliche Reise übers Mittelmeer in Richtung Europa antreten, genau so viel Glück haben wie er? Mare Nostrum droht das Aus. Am Sonnabend übernimmt die EU. „Triton“ heißt die Operation der EU-Grenzagentur Frontex, an der auch Deutschland mitwirkt.

Mare Nostrum und Triton stehen für zwei völlig unterschiedliche Ansätze. Triton sei kein Ersatz für Mare Nostrum, stellt Frontex-Chef Gil Arias-Fernández klar: „Frontex ist für die Überwachung der Grenzen zuständig und hat nicht den Auftrag, Flüchtlinge zu retten.“ Natürlich sei es auch für Triton „absolute Priorität“, Menschen in Seenot zu helfen. Doch es werde nicht gezielt nach Flüchtlingsbooten gesucht, sagt der Spanier. Alleine das Budget unterstreicht den Unterschied: Mit 2,9 Millionen Euro monatlich kostet Triton gerade einmal ein Drittel so viel wie Mare Nostrum.

Flüchtlingsorganisationen sind bestürzt. Europa würde mit Triton einfach die Festungsmauern hochziehen und die Menschen auf See im Stich lassen, heißt es. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR warnt vor einem überstürzten Ende. Es sieht Tausende Menschenleben in Gefahr. Monsignore Giancarlo Perego, Generaldirektor der Stiftung Migrantes, die sich für Flüchtlinge und Immigranten einsetzt, appelliert an Europa: „Mare Nostrum sollte fortgeführt werden. Allerdings als eine Initiative, die von ganz Europa getragen wird.“

Ein großer Teil der italienischen Politik kann das Ende von Mare Nostrum gar nicht abwarten. Zu teuer sei die Operation, schimpfen insbesondere rechtskonservative Politiker. Dazu zählt Innenminister Angelino Alfano, der Zögling von Ex-Premier Silvio Berlusconi. Alfano hat sich mit der Aussage vor gewagt, dass Triton an die Stelle von Mare Nostrum trete. Den Satz wiederholt fast täglich gebetsmühlenartig. Ein Admiral, der daran zweifelte, pfiff er zurück. Eine Entscheidung, wie es mit Mare Nostrum weitergeht, hat Italiens Regierung noch nicht getroffen. Anfragen zu Mare Nostrum werden vom Regierungspalast Palazzo Chigi in Rom entweder vage oder gar nicht beantwortet. Die italienische Marine macht also im Zweifelsfall erst einmal weiter.

Und die Marine ist stolz auf das Geleistete. Das setzt sie auch medial in Szene. 2. Oktober, 18.00 Uhr. Galaabend im Saal Tempio di Adriano in der Handelskammer Rom. Das Staatsfernsehen Rai und die größte Tageszeitung Italiens, der „Corriere della Sera“, stellen eine neue Dokuserie vor, die im Internet übertragen wird. „Die Wahl Catias“ lautet der Titel. Catia, das ist Catia Pellegrino. Sie kommandiert im Golf von Sizilien das Schiff Libra, mit dem sie am 11. Oktober vor einem Jahr 214 Flüchtlingen das Leben gerettet hat. Der Libra-Einsatz ist die Geburtsstunde von Mare Nostrum.

Aber nicht alle stimmen in den Lobgesang auf Mare Nostrum ein. Kritiker geben zu bedenken, dass die Operation perverse Anreize geschaffen hätte. Schlepper würden dazu verleitet, besonders viele Flüchtlinge auf ihre Boote zu pferchen und ihnen wenig Treibstoff und Verpflegung mitzugeben. Eben weil ihnen die italienische Marine zu Hilfe eile. Verantwortliche der EU-Grenzagentur Frontex und mehrere Experten stützen die These.

In Italien jedenfalls ist die Stimmung äußerst gespannt. Die Auffanglager sind überfüllt. Wer keine Bleibe findet, der kampiert in Parks, unter Brücken oder an den Hauptbahnhöfen. Auf dem Mailänder Hauptplatz Piazza Duomo ist die rechte Lega Nord aufmarschiert. Auf dem Podium tritt der Lega-Nord-Parteichef Matteo Salvini vors Mikrofon. Zuerst lobt er Russlands Präsidenten Wladimir Putin, dann klagt er über den Ausverkauf heimischer Äpfel, bis er schließlich auf Mare Nostrum zu sprechen kommt. „Mare Nostrum ist Sklaventreiberei. Die Operation ist rassistisch“, schimpft er. „Die schicken zu uns Leute, die für drei Euro in der Stunde ihren Körper verkaufen.“ Von den 40.000, die jedes Jahr Asyl beantragen würden, seien nur 4000 politische Flüchtlinge. „Der Rest sind illegale Einwanderer“, sagt Salvini. „Und die schicken wir postwendend zurück.“ Das Publikum röhrt vor Begeisterung.

Mare Nostrum und Sklaverei? „Ihnen verdanke ich mein Leben“, sagt Dschako. Auf seinem Handy hat er Fotos von seiner Heimat Mali eingespeichert. Da wohnt seine Mutter. Doch Dschako will nicht zurück. „Überall ist es besser als in Afrika“, sagt er. Nach Frankreich zieht es ihn. Dort wohnt ein Onkel. Er ist gekommen, um zu bleiben.