EU-Kommissionschef will 300-Milliarden-Euro-Paket bis Jahresende schnüren. Große Mehrheit im Europäischen Parlament für neue Kommission

Brüssel/Straßburg. Der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drückt angesichts der kriselnden Konjunktur in Europa bei seinem geplanten 300 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm aufs Tempo. Er werde das Paket gemeinsam mit dem zuständigen Vizepräsidenten Jyrki Katainen noch vor Weihnachten vorlegen, kündigte Juncker am Mittwoch in Straßburg an. „Die Versuche – und sie wurden gemacht – mich von diesem Programm abzubringen, werden nicht fruchten“, sagte der 59-jährige Luxemburger. „Das Programm liegt mir sehr am Herzen.“ Zugleich machte er deutlich, dass dafür keine neuen Schulden aufgenommen, sondern vor allem auch privates Kapital freigesetzt werden solle. Das Programm dürfte nicht als Konjunkturpaket missverstanden werden, das nur ein Strohfeuer entfachen würde. Vielmehr müsse mittelfristig das Wachstum durch zielorientierte Maßnahmen angekurbelt werden.

Das Europäische Parlament stimmte wie erwartet mit großer Mehrheit für die neue EU-Kommission, die damit wie geplant am 1. November für fünf Jahre ihre Arbeit aufnehmen kann. Das 28-köpfige Spitzengremium erhielt 423 Stimmen der 699 Abgeordneten, die sich an der Wahl beteiligten. 209 Parlamentarier lehnten das Kollegium ab, 67 enthielten sich. Juncker konnte auf die Stimmen von Europäischer Volkspartei EVP, Sozialdemokraten und der meisten Liberalen im EU-Parlament setzen. Grüne, Linke, FDP und AfD hatten zuvor angekündigt, gegen die Kommission zu stimmen. Die Behörde wacht über die Einhaltung der EU-Verträge und schlägt neue Gesetze vor.

Juncker musste sein Team noch kurzfristig umbesetzen, da die slowenische Kandidatin Alenka Bratusek im EU-Parlament durchgefallen war. Die von Slowenien nachnominierte Violeta Bulc leitet künftig das Verkehrsressort in der Brüsseler Behörde. Der ungarische Konservative Tibor Navracsics ist künftig doch nicht für Bürgerrechte zuständig. Das Ressort ging an den Griechen Dimitris Avramopoulos, der sich bereits um die Themen Migration und Inneres kümmert. Der Deutsche Günther Oettinger, der bisher als Energiekommissar tätig war, wird für die Digitalwirtschaft zuständig sein.

Juncker, der den Teil seiner Rede zur Wirtschaftspolitik auf Deutsch hielt, unterstrich: „Die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts werden nicht geändert.“ Es müsse jedoch neben Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen auch die mögliche Flexibilität angewendet werden. „Aber zu denken, dass Haushaltskonsolidierung allein zu Wachstum führt, ist falsch“, betonte Juncker. Vor allem die Bundesregierung hatte darauf beharrt, dass die Stabilitätsregeln nicht aufgeweicht werden dürften. Deutschland und Frankreich hatten Anfang der Woche in Berlin angekündigt, am 1. Dezember ein Konzept vorzulegen, das Investitionen in Europa anschieben soll.

Derzeit überprüft die noch bis Ende Oktober amtierende EU-Kommission die Haushaltspläne der EU-Mitgliedsländer. Unter besonderer Beobachtung stehen Frankreich und Italien, die mit den Defizit- und Schuldenvorgaben der EU hadern. Heftige Diskussionen hatte es in diesem Zusammenhang vor allem über die Berufung des französischen Sozialisten Pierre Moscovici zum Wirtschafts- und Währungskommissar gegeben, der als Finanzminister seines Landes selbst nicht die Haushaltsvorgaben der EU eingehalten hatte.

Während Juncker von den beiden größten Fraktionen EVP und S&D Zustimmung für seine Wirtschaftspolitik erhielt, hagelte es von rechten und linken Parteien Kritik. Der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke warf Juncker vor, seit den Lehren des Ökonomen John Maynard Keynes aus den 30er-Jahren nichts dazugelernt zu haben. Die Krise sei mittlerweile in Deutschland und Frankreich und damit im Herzen der Euro-Zone angekommen. Abgeordnete der Linken hielten Juncker vor, selbst als Ministerpräsident Luxemburgs und Vorsitzender der Euro-Gruppe verantwortlich zu sein für die Auswirkungen der Euro-Schuldenkrise, unter denen die Menschen in Südeuropa litten. „ Anstatt für bessere Finanzierung von Investitionen in Klimaschutz, erneuerbare Energien, Forschung und Bildung zu sorgen, wurde kurzsichtig der Rotstift angesetzt und ein weitestgehend rückwärtsgewandter EU-Haushalt verabschiedet. Bundeskanzlerin Merkel muss diesen Fehler dringend korrigieren“, kritisierte der Hamburger Bundestagsabgeordnete der Grünen, Manuel Sarrazin.

Mit Blick auf die Debatten über das geplante Freihandelsabkommen mit den USA sagte Juncker, dass er Sonderregeln für Investoren in solchen Abkommen nicht hinnehmen werde, wenn dadurch die Rechte der nationalen Gerichte beschnitten würden. Zuständig für diese Frage soll der Erste Vizepräsident der neuen EU-Kommission sein, der Niederländer Frans Timmermans.

Juncker hob die Rolle der sieben Vizepräsidenten der Kommission als Koordinatoren hervor. „Sie sind aber keine kleinen Häuptlinge, sondern sollen Projektleiter und Antreiber sein.“ Die EU-Kommission müsse wegkommen von der Kirchturm-Mentalität, in der jeder Kommissar nur für seinen Bereich zuständig sei. So werde etwa der für Investitionen zuständige Vizepräsident Katainen die Arbeit der Kommissare für Verkehr, Digitales, Wirtschaft, Soziales und den Kapitalmarkt bei bestimmten Projekten koordinieren. An die EU-Staaten gerichtet, die jeweils einen Kandidaten für das 28-köpfige Kollegium benennen, monierte Juncker den geringen Frauenanteil in der Kommission. „Neun Kommissarinnen von 28, das ist weiterhin lächerlich.“ Scherzhaft fügte er hinzu, dass es ihm unangenehm sei, dass sein eigenes Land keine Frau benannt habe. „Kurzfristig wird mir aber keine Geschlechtsumwandlung gelingen.“

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