Nach der Unabhängigkeits-Abstimmung müssen tiefe Risse in der Gesellschaft gekittet werden

Edinburgh. Der Morgennebel hängt noch schwer über Edinburgh, da strömen die Menschen in Schottlands Hauptstadt schon in die Wahllokale. Geschäftsleute und Rentner, junge Paare und ganze Familien sagen „Yes“ oder „No“ auf die Frage, ob Schottland ein unabhängiger Staat werden soll. Wie ernst sie diese Entscheidung nehmen, ist den Schotten in die angespannten Gesichter geschrieben.

„Es ist absolut historisch. Das ist die größte Entscheidung für Generationen“, sagt der Mann im Anzug, auf der Aktentasche leuchtet ein blau-weißer „Yes“-Aufkleber. „Das ist vielleicht der wichtigste Moment im Leben“, sagt eine Mutter, schaut ihre beiden Söhne im Teenager-Alter streng an und klebt ihnen lila „No“-Sticker auf die Jacken: „Ich hoffe, ihr habt richtig gewählt?“

Denn erstmals in der britischen Geschichte sind Jugendliche ab 16 stimmberechtigt. Laut Umfragen sind es vor allem jüngere Schotten, die wegwollen von Großbritannien. Aber dass sie sich in die Debatte einmischten und für ihre Meinung auf die Straße gingen, begeistert Politiker wie Politologen: von Politikverdrossenheit keine Spur.

Nicht nur die junge Generation, das ganze Land hat in den vergangenen Monaten eine wohl beispiellose Politisierung erfahren. Dass sich 97 Prozent der 4,4 Millionen Wahlberechtigten registrieren ließen, beweist das in Zahlen. Dass auf der Straße und im Pub jeder die Pro- und Kontra-Argumente herunterbeten und seinen Standpunkt dazu erklären konnte, unterscheidet sich angenehm vom ratlosen Schulterzucken vor Parlamentswahlen. 2011, als die Nationalpartei die absolute Mehrheit in Schottland gewann und das Referendum auf den Weg brachte, hatte die Wahlbeteiligung bei nur 50,4 Prozent gelegen. Wie hoch die Beteiligung diesmal war und wer sich am Ende durchgesetzt hat, soll an diesem Freitag am frühen Vormittag feststehen.

Dann weiß auch Mandy Scot, ob sich ihr Einsatz am gestrigen Wahltag gelohnt hat, denn der glich Hochleistungssport. Die 49-Jährige jagte seit 7 Uhr jedem Passanten hinterher, der die Craigmillar Castle Road entlangging. „Hast du schon gewählt? Kann ich dir einen Ja-Sticker geben?“ Ein junger Mann entgegnete Mandys Annäherung barsch: „Hab schon gewählt. Mit Nein!“ Auch der 23-jährige Gordon Maloneyklapperte in der Frühe die Häuser mit potenziellen „Yes“-Wählern ab. „Diese Wahl hat Schottland schon jetzt verändert. Dass die Leute so viel über Politik diskutieren, überall miteinander ins Gespräch kommen.“

Doch dass das ganze Land eine Meinung hat, macht vielen auch sehr große Sorgen: „Das Referendum gibt nicht nur Macht, es spaltet auch. Diese Spaltung könnte sogar das länger vorhaltende Vermächtnis sein“, schreibt Martin Kettle im „Guardian“.

Schottlands Regierungschef Alex Salmond hat deshalb schon oft die Einheit des Landes beschworen: Von jetzt an gebe es nur noch „Team Scotland“. Die Kirche rief indes die Unionisten und die Unabhängigkeitsbewegung auf, gemeinsam Harmonie zu schaffen nach dem Votum. Auch Versöhnungsgottesdienste sind geplant.

John McCafferty findet es ganz in Ordnung, dass in Schottland so leidenschaftlich über die Zukunft gestritten wurde: „Das ist sehr gesund.“ Der Mittvierziger trug einen „Yes“-Aufkleber auf der Brust, wollte sich aber auch mit einer Niederlage abfinden: „Es ist doch nicht gut, wenn alle hier die gleiche Meinung haben.“

Nicht alle sahen das am Donnerstag so entspannt: „Das stellt unseren Sinn für Demokratie auf die Probe“, sagte John Knox. Der 64-Jährige verteilte vor einem Wahllokal im Süden Edinburghs „No“-Sticker: „Eine Seite wird schwer schlucken müssen.“ Neben ihm stand Jeanette Campbell, in der Hand einen Stapel „Yes“-Aufkleber. „Die Seite, die verliert, weiß, dass es ganz knapp war“, sagte die 45-Jährige und wechselte einen besorgten Blick mit Knox aus dem gegnerischen Lager: „Egal, wir müssen eben das Beste daraus machen.“

Klar war am Donnerstag schon: Schottland ist von heute an ein anderes Land. Siegt das „No“-Lager und Schottland bleibt Teil Großbritanniens, muss Premierminister David Cameron seine kurzfristigen Lockangebote wahr machen und eine weitreichende Selbstbestimmung auf den Weg bringen. Eine Perspektive, die bereits andere Teile des Königreichs auf den Plan ruft, die ebenfalls mehr Rechte haben wollen. Auch Großbritannien wird mithin nicht mehr das sein, was es war.

Ein Ja zur Unabhängigkeit aber wiegt noch viel größer, es schafft einen 307 Jahre alten Staat ab und schafft einen neuen, und dieses politische Beben wird bis in den letzten Winkel Europas zu spüren sein. Katalanen, Südtiroler, Flamen, die Ungarn in Siebenbürgen – alle warten auf den Präzedenzfall, in dem ein Volk friedlich und demokratisch seine Selbstbestimmung durchgesetzt hat.

Einige von ihnen hatten deshalb die Reise ins wolkenverhangene Edinburgh auf sich genommen. „Südtirol hat schon jetzt gewonnen, egal, wie die Abstimmung ausgeht. Denn die Schotten zeigen, dass eine Wahl möglich ist“, sagt Elmar Thaler. Der 39-Jährige ist Landeskommandant des Südtiroler Schützenbundes, vier Tage verbrachte er in Schottland, um sich Kampagne und Wahl genau anzuschauen.

Thaler und seine fünf Mitstreiter wurden umringt von einer Gruppe Katalanen. Sie hatten sich die rot-gelbe Flagge mit dem blauen Stern umgehängt, das Symbol der Separatisten in Spaniens Nordosten. 700 Katalanen kamen nach Edinburgh, organisiert von einem Reisebüro. Aufgeregt zogen sie durch die historische Altstadt, umringt von Fotografen und anderen „Yes“-Aktivisten.