Terrormiliz Islamischer Staat erobert Luftwaffenbasis in Syrien, US-Regierung uneins über Ausmaß der Bedrohung

Washington. Stell’ dir vor, es ist Krieg, und keiner weiß, was zu tun ist. Die unbequemste Frage angesichts des wachsenden Erfolgs der IS-Milizen formuliert die „Washington Post“: „Hatte Putin recht in Sachen Syrien?“ Der Autor erinnert an die fortgesetzten Warnungen des russischen Präsidenten, die Rebellen in ihrem Kampf gegen das Regime von Baschar al-Assad zu unterstützen und gar Militärschläge gegen Damaskus zu starten, wie sie sein US-Amtskollege Barack Obama vor knapp einem Jahr angekündigt (dann aber wieder abgesagt) hatte. Dies würde „die Gewalt steigern und eine neue Woge des Terrorismus entfesseln“, so Putin seinerzeit. „Söldner aus arabischen Ländern kämpfen dort, und Hunderte Militante aus westlichen Ländern und sogar Russland erwecken in uns große Sorgen: Könnten sie nicht zurückkehren in ihre Heimatländer mit Erfahrungen, die sie in Syrien gesammelt haben?“

Dass es offenbar drei im Raum London aufgewachsene Extremisten waren, die im Namen der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS, ehemals Isis) vor laufender Kamera den amerikanischen Journalisten James Foley enthaupteten, scheint Putin zu bestätigen.

Washington scheint in dieser Situation zutiefst verunsichert. Vieles deutet auf eine Ausweitung der Kampfzone hin. Nachdem Obama bereits seit zwei Wochen IS-Stellungen im Irak aus der Luft angreifen lässt, um Landsleute in der Botschaft und dem Konsulat in Bagdad und Mossul ebenso zu schützen wie die bedrohten Minderheiten der Jesiden und Christen, sollen offenkundig demnächst die IS-Basen in Syrien ins Visier rücken. Aus dem Weißen Haus wurde über das Wochenende gestreut, die Verbündeten in der Region, also die irakische Armee, die kurdische Peschmerga und gemäßigte Anti-Assad-Rebellen, müssten die Führung in einem solchen Kampf unterstützen. Die USA würden sie mit Kampfjets, Raketen und geheimdienstlicher Aufklärung unterstützen.

Die Vertreter dieses Szenarios gehen davon aus, dass die Verfestigung der IS-Strukturen und die mögliche Errichtung eines Kalifats in Teilen Syriens und des Irak die gesamte Region bedrohen würden. Damit wären auch amerikanische und westliche Sicherheitsinteressen bedroht. Doch bei Generalstabschef Martin Dempsey klang das am Sonntag anders. Sobald IS eine direkte Gefahr für das Territorium der USA darstelle, würde er Militäraktionen gegen die Basis der Gruppe in Syrien empfehlen, sagte er Journalisten während eines Flugs nach Afghanistan. Bislang aber betrachte er die Dschihadisten als regionales Phänomen, die aus seiner Sicht keine Attacken gegen die USA oder Europa planten.

Sehr viel alarmierter äußerte sich der frühere CIA-Chef Michael Hayden. Der General ist überzeugt, ein IS-Angriff gegen westliche Ziele sei „nur eine Frage der Zeit“. Dem TV-Sender CNN sagte er am Montag: „IS ist eine sehr mächtige lokale Organisation, und wahrscheinlich eine ziemlich mächtige regionale Terror-Organisation.“ Er fügte hinzu: „Aber es ist eine (Organisation) mit globalen Ambitionen – und sie hat die Mittel.“ Hayden empfahl daher Luftschläge gegen IS auch in Syrien. „Es geht darum, IS zu beschädigen. Es geht darum, sie mehr darüber in Sorge zu versetzen, wie sie ihre eigene Überlebensfähigkeit sichern.“

Die US-Justizbehörden jedenfalls versuchen schon heute verstärkt, IS-Sympathisanten auf die Spur zu kommen, die den Terror in die USA tragen könnten. Nach Schätzungen der Polizei könnten mindestens 100 US-Bürger auf Seiten der sunnitischen Extremisten kämpfen. Im April wurde eine zum Islam konvertierte Frau aus Colorado festgenommen, bevor sie nach Syrien reisen konnte. Sie wollte dort einen Kämpfer heiraten, den sie im Internet kennengelernt hatte. Und kürzlich wurde ein Mann aus Texas gefasst, der einen Flug in die Türkei nehmen wollte. Er bekannte sich zu Vorwürfen schuldig, wonach er sich der Terrorgruppe anschließen wollte.

Generalstabschef Martin Dempsey bezeichnet den Islamischen Staat als „unmittelbare Bedrohung“, unter anderem wegen der Anzahl von Europäern und anderen Ausländern, die in die Region reisten, um sich der Gruppierung anzuschließen. Zwar haben das FBI und das Ministerium für Heimatschutz erklärt, dass es derzeit keine glaubwürdigen oder spezifischen Drohungen des Islamischen Staats gegen die USA gebe. Doch hätten „gewalttätige Extremisten, die die Gruppe unterstützen“ gezeigt, dass sie fähig seien, Anschläge auf US-Ziele in Übersee zu versuchen. Der ehemalige CIA-Vizechef Michael Morell hatte bereits in der vergangenen Woche im US-Fernsehen seine Einschätzung verkündet, er wäre nicht überrascht, wenn ein IS-Mitglied mit einem Maschinengewehr in einem US-Einkaufszentrum auftauche und eine Reihe von Amerikanern umbringe.

Terrorabwehrexperten der New Yorker Polizei richten ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die Bedrohung durch den IS und dessen Bemühungen, in sozialen Netzwerken um Anhänger zu werben. Unter bestimmten Hashtags habe die Gruppe den USA gedroht, sagte Expertin Rebecca Weiner von der New Yorker Polizeibehörde vor Vertretern der privaten Sicherheitsbranche. „In diesen Hashtag-Kampagnen haben wir eine Menge Bilder von US-Städten gesehen, darunter New York.“ Und sie verwies auf die Festnahme eines Franzosen nach einem tödlichen Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel im Frühjahr. Der Verdächtige hatte ein Jahr in Syrien verbracht, ein Sturmgewehr in seinem Besitz war in eine Flagge mit einem Schriftzug des Islamischen Staats gehüllt.

Und in Syrien muss sich die IS keine Sorgen um ihre Überlebensfähigkeit machen. Allein am Wochenende hätten sich mehr als 300 Männer anderer oppositioneller Milizen dem IS angeschlossen, berichtete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die Terrorgruppe haben in Syrien inzwischen rund 50.000 Kämpfer. Etwa 20.000 von ihnen kämen aus dem Ausland – vor allem aus dem arabischen Raum und aus Europa. Im Nordosten Syriens brachten IS-Kämpfer nach erbitterten Gefechten einen Luftwaffenstützpunkt unter ihre Kontrolle. Dabei sollen mindestens 346 Extremisten und mehr als 170 Regierungssoldaten getötet worden sein. Es war die letzte Stellung der Armee in einer Gegend, die bereits in den Händen von IS ist.