Aber: Außenminister Steinmeier lehnt eigenständigen Staat ab. Peschmerga-Truppen erobern Staudamm zurück

Berlin/Erbil. Kurdische Kämpfer haben am gestrigen Sonntag im Nordirak den größten Staudamm des Landes aus der Hand der Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS) zurückerobert. Das gaben ein kurdischer Offizier sowie zwei Vertreter politischer Parteien am Abend bekannt. Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer hatten im Laufe des Tages ihre Offensive auf den Mossul-Staudamm mit Unterstützung der US-Luftwaffe intensiviert. Die US-Armee flog nach eigenen Angaben allein am Sonnabend neun und am Sonntag 14 Luftangriffe in der Nähe des Staudamms am Tigris.

Die sunnitischen Dschihadisten hatten den Staudamm nördlich der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul am 7. August erobert und damit die Kontrolle über die Wasser- und Stromversorgung weiter Landesteile erlangt. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Nordirak wegen des fehlenden Widerstands der irakischen Armee von den IS-Kämpfern förmlich überrannt.

Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen und Augenzeugen sollen die Kämpfer die Menschen in der Region Ninive vielfach aufgefordert haben zu konvertieren oder zu fliehen. Viele von denen, die sich gegen beides weigerten, seien daraufhin angegriffen worden. Bereits am Freitag sollen die radikalsunnitischen Kämpfer in dem nordirakischen Dorf Kotscho Dutzende Zivilisten hingerichtet haben, vor allem Jesiden. Einem Regierungsvertreter zufolge stürmte ein Konvoi mit bewaffneten Dschihadisten das Dorf und richtete ein „Massaker“ an.

Ein Kurdenvertreter sprach von mindestens 81 Toten, zudem hätten die Angreifer mehrere Frauen verschleppt. Die bewaffnete Kurdenmiliz YPG, die Teile Nordsyriens kontrolliert, hat nach eigenen Angaben Jesiden zum Kampf gegen den Islamischen Staat im Irak ausgebildet. In Syrien befänden sich mehrere Trainingslager für Mitglieder der religiösen Minderheit. In den vergangenen Tagen seien bereits mehrere Hundert Jesiden ausgebildet worden, sagte ein YPG-Sprecher. Es meldeten sich immer mehr Freiwillige.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hielt sich am Sonnabend zu einem Besuch im Irak auf und sicherte den Menschen Unterstützung zu. „Eine terroristische Mörderbande versucht, sich das Land Untertan zu machen.“ Beim Treffen mit seinem Amtskollegen Hussein al-Scharistani sagte Steinmeier, es sei Zeit für ein „Signal der Solidarität“. Er kam zudem mit Präsident Fuad Masum sowie mit dem designierten Regierungschef Haidar al-Abadi zusammen, dessen Nominierung er einen „kleinen Lichtblick“ nannte.

Der SPD-Politiker besuchte in der 800.000-Einwohner-Stadt Erbil eine Notunterkunft für 300 Jesiden und Christen und sicherte weitere Hilfsleistungen zu. „Es geht auch darum, Wiederaufbau zu leisten, damit sie in ihre Heimatdörfer zurückkehren können“, sagte der Minister. Die Bundesregierung hat Irak 24,4 Millionen Euro für Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt.

Im Gespräch mit „Bild am Sonntag“ lehnte Steinmeier aber einen eigenständigen Kurdenstaat im Nordirak ab. Dieser würde „die Region weiter destabilisieren und neue Spannungen hervorrufen“. Er setze daher auf die Stabilisierung des Landes und dabei auf den Politiker al-Abadi. Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak schloss Steinmeier im Gespräch mit den „Tagesthemen“ nicht mehr gänzlich aus. Es gebe „keine risikofreien Entscheidungen“. Deutschland müsse bei seiner Unterstützung „bis an die Grenze des rechtlich und politisch Möglichen gehen“. Langfristig müsse es eine politische Lösung für den Irak geben.

Die ersten deutschen Hilfslieferungen in den Nordirak sind am frühen Sonntagmorgen abgeschlossen worden. „Es ist alles da“, sagte der Kommandoführer der Bundeswehr, Roman Lau, im türkischen Incirlik. Insgesamt brachte die Bundeswehr 36 Tonnen an Lebensmitteln und Sanitätsmaterial zum Flughafen in Erbil. Dorthin hatten sich Zehntausende Jesiden, Christen und andere Vertriebene gerettet, die vor der Terrormiliz Islamischer Staat geflüchtet waren. Am Sonntagmorgen kehrte das letzte Transall-Transportflugzeug der Bundeswehr aus dem Irak nach Incirlik zurück. „Es hat keine signifikanten Zwischenfälle gegeben“, sagte Lau. Die Hilfsflieger waren am Freitagmorgen gestartet.

In Hannover haben am Sonnabend Tausende Jesiden und Kurden gegen die gewaltsamen Übergriffe im Nordirak demonstriert und am Sonntag in Berlin mehr als 900 Menschen mit einem Bittgottesdienst an die verfolgten religiösen Minderheiten erinnert.

In Großbritannien warnte Premierminister David Cameron, der Islamische Staat könne eine unmittelbare Gefahr für Menschen in Europa werden. „Die Errichtung eines extremistischen Kalifats mitten im Irak, das sich auch nach Syrien erstreckt, ist kein Problem meilenweit weg von zu Hause“, schrieb er im „Sunday Telegraph“. Wenn die IS-Miliz nicht aufgehalten werde, erstarke sie immer weiter, „bis sie uns in den Straßen Großbritanniens ins Visier nehmen kann“. Einige Beobachter werteten den Vorstoß des Premierministers als Versuch, einen neuen Militäreinsatz Großbritanniens im Irak zu rechtfertigen.

Mit den US-Luftschlägen gegen die IS-Miliz sei es nicht getan, sagte Cameron. Es sei nach den „langen und schwierigen“ Konflikten“ in Afghanistan und im Irak kaum überraschend, dass viele Briten lieber nur auf die Lieferung von Hilfsgütern setzen. „Ich stimme zu, dass wir es vermeiden sollen, Armeen zu schicken, um zu kämpfen und zu besetzen“, schrieb er. Echte Sicherheit könne jedoch nur erreicht werden, wenn die Briten alle ihre Ressourcen nutzten – Hilfsgüter, Diplomatie und militärische Leistungsfähigkeit.