Das Leid der Flüchtlinge im Gazastreifen wächst mit jedem Tag. Auch in Kirchen und Schulen fühlen sich Zivilisten nicht mehr sicher

Gaza. Zuaad wäscht die Kleidung ihrer sieben Kinder. Sie sitzt auf dem Hof vor dem Eingang der Kirche. Es ist Krieg, sagt sie, aber deswegen können sie dennoch ordentlich angezogen sein. Neben ihr sitzt die Tochter, sie ist schon 20 Jahre alt. Zuaad schaut sie immer wieder besorgt an, während sie ein Tuch auswringt. „Sie ist weinend zusammengebrochen, vorgestern und gestern. Und sie schläft nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann ihr nicht helfen.“

Zuaad und ihre Familie sind aus Shujaia geflohen, einem heftig umkämpften Viertel von Gaza-Stadt, das vor sechs Tagen eine der blutigsten Nächte des Krieges erlebte. 90 Palästinenser und 13 israelische Soldaten starben. Dem Krieg sind nach palästinensischen Angaben seit dem 8. Juli mehr als 1030 Palästinenser zum Opfer gefallen. Auf israelischer Seite wurden 43 Soldaten getötet. Das militärische Vorgehen gegen die radikale Hamas wird mit dem anhaltenden Raketenbeschuss begründet. Und Israel wirft der Hamas in Gaza vor, sich hinter Zivilisten zu verstecken. Fotografen haben in Shujaia mehrmals Kämpfer in Frauenkleider gesehen, unter denen sie Maschinengewehre versteckt hielten.

„Wir haben zuvor oft Schießereien und Explosionen gehört“, sagt Zuaad. Ihre Familie verließ das Haus nicht sofort, nachdem sie per SMS eine Warnung der israelischen Armee erhalten hatte. Sie sagt, ihr Mann wollte sein Haus nicht aufgeben. 20 Jahre haben sie dort gelebt. „Er sagte, lieber sterbe er in dem Haus, als es zu verlassen.“ Doch die Angst in den Gesichtern seiner Kinder, als die Einschläge immer näher kamen, stimmte ihn um. Ein paar Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatten, wurde es getroffen.

Shujaia liegt im Nordwesten des Gazastreifens zwischen Gaza-Stadt und Israel. Jeder kennt jeden, sagen die Menschen von dort, alle sind wie eine Familie. Und deswegen gibt es jetzt auch keinen Ort, an den sie flüchten können. Weil ihre Familienmitglieder, ihre Freunde und Bekannten alle auf der Flucht sind. Und wohin soll man auch, in diesem kleinen Flecken Land. Raus geht es nicht. Die zwei Grenzübergänge sind für die meisten der 1,6 Millionen Palästinenser geschlossen.

Seit fast drei Wochen herrscht Krieg. 160.000 Palästinenser sind auf der Flucht. 360 Quadratkilometer groß ist ihre Heimat, etwas kleiner als Köln. Laut Uno sind 43 Prozent davon als nicht begehbar deklariert worden, weil es dort gefährlich ist. Wohin also? Zuaad hat Zuflucht in der Kirche des heiligen Porphyrios gefunden. „Drei, vier Familien kommen noch immer täglich“, sagt Alexios, der Erzbischof von Gaza. „Mittlerweile muss ich sie abweisen.“ Zu wenig Platz. 1665 Flüchtlinge verteilen sich auf Garten und Innenraum seiner Kirche und den Keller des Verwaltungshauses. Die kleine Kirche liegt neben einer Moschee. Die Mitarbeiter der beiden Gotteshäuser helfen sich gegenseitig, mit dem Flüchtlingsstrom fertigzuwerden. „Wir sind Nachbarn und Brüder, eine große Familie“, sagt Alexios.

Die Flüchtlinge in seiner Kirche sind Muslime, nur drei christliche Familien sind bei ihm untergekommen. Die christliche Gemeinde in Gaza hat nur 3000 Mitglieder. Richtig sicher fühlen sie sich auch in der Kirche nicht. Am Abend des Tages, an dem Zuaad mit ihrer Familie hier Zuflucht gefunden hatte, wurde der Friedhof bombardiert. „Wir sind aus dem Raketenhagel geflohen, doch als wir ankamen, wartete er schon wieder auf uns“, sagt sie.

Viele suchen auch Zuflucht in Krankenhäusern und Schulen. Seitdem jedoch am Donnerstag eine Schule des Uno-Flüchtlingshilfswerks bombardiert wurde, ist das Vertrauen der Bevölkerung in deren Schutz verloren gegangen. 16 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. „Was ist Sicherheit?“, fragt Samir Zaid. Er schüttelt den Kopf. „Wir sind nirgends sicher.“ In der Schule wurden Hamas-Militante gesehen, zudem haben Uno-Mitarbeiter bereits zweimal in leer stehenden Schulgebäuden Raketenverstecke gefunden. „Aber ist das ein Grund, uns umzubringen? Ich hab nichts damit zu tun. Mein Kind auch nicht“, sagt er.

Samir lebt mit 45 Menschen in einem Klassenzimmer. Die Bänke haben sie zu Wänden gestapelt, um drei kleine Räume zu schaffen, für ein klein wenig Intimsphäre. Die Frauen kochen mit Gaskochern, aber sie versuchen, es zu vermeiden. Das Gas ist teuer. Meist gibt es Essen aus Dosen. Thunfisch, Kichererbsen. Vor 15 Tagen hat sich Samirs Familie in die Mädchenschule nach Gaza-Stadt gerettet. Sie ist hoffnungslos überfüllt. In jedem Klassenzimmer des vierstöckigen Gebäudes wohnen mindestens 30 Menschen. Wo früher Basketball gespielt wurde, hängt nun die Wäscheleine. Selbst im Treppenaufgang hat sich eine Familie niedergelassen. In den 82 anderen Unterkünften der Uno sieht es ähnlich aus.

Eine weiße Tischdecke ist nun ein Dach. Ibrahim Khaled Helles hat ein Loch hineingeschnitten und sie an einem Baum des kleinen Parks hinter dem größten Krankenhaus in Gaza aufgespannt. Um ihn herum ist eine Zeltstadt gewachsen. Hunderte von Menschen belegen jeden Schattenplatz, den sie finden können. Ibrahim steht vor seinem Zelt im Park hinter dem Krankenhaus und fragt: „Ist das ein Leben?“ Er blickt auf seine Frau, die neben der Tochter und den Enkeln auf einer Matratze sitzt. Die Tischdecke, die über ihm hängt, gehört nicht ihnen. „Wir haben alles aus dem Krankenhaus bekommen oder woanders geliehen“, sagt Ibrahim. So überstürzt sind sie geflohen. Keine zehn Autominuten entfernt gehört ihm ein Grundstück von 500 Quadratmetern. Er weiß nicht, ob es zerstört ist. Er hat sich nicht mehr in sein Viertel getraut. „Zu gefährlich", sagt er.

Ibrahim sagt, er will dorthin zurück. Aufbauen, was zerstört wurde.

Samir will einfach nur überleben und seine Familie irgendwie durchbringen.

Und Zuaad? „Ich muss acht Cousinen beerdigen“, sagt sie. Was danach kommt, weiß sie noch nicht.