Ankara rechnet mit einem Auseinanderbrechen des Irak und betrachtet die dortigen Kurden als verlässlichste Verbündete

Istanbul. Die Furcht der Türkei vor der Entstehung eines Kurdenstaates an ihrer Südostgrenze ist in der Außenpolitik Ankaras kein bestimmender Faktor mehr, das Wort „Kurdistan“ hat für türkische Regierungspolitiker seinen Schrecken verloren. Inzwischen gilt die Devise, dass die Türkei in der ganzen Region „keinen besseren Verbündeten hat als die Kurden“, wie es der Irak-Experte Bilgay Duman vom Zentrum für Strategische Nahost-Studien in Ankara formuliert. Politische und wirtschaftliche Gründe haben dazu beigetragen, diesen erstaunlichen Wandel herbeizuführen.

Die Aussicht, dass sich die 25 bis 35 Millionen Kurden in Nahost irgendwann einmal in einem eigenen Staat zusammenfinden könnten, war für die vier Länder mit kurdischen Minderheiten in der Region – Türkei, Syrien, Irak und Iran – über Jahrzehnte ein Schreckensszenario. Ethnisch und sprachlich gehören die Kurden weder zu den Türken, noch zu den Arabern oder den Persern – und wurden deshalb lange als Bedrohung gesehen. Zumindest in Ankara ist das nicht mehr so. Das Denken der türkischen Außenpolitiker wird bestimmt vom Auseinanderfallen des irakischen Staatsverbandes und den Erfolgen der radikal-sunnitischen Gruppe Islamischer Staat (IS), die im Irak und in Syrien ein „Kalifat“ zu errichten sucht.

Der Vormarsch der IS, bis vor kurzem als „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“ (Isis) bekannt, hat die Zweifel verstärkt, ob der Irak als gemeinsamer Staat von Schiiten, Sunniten und Kurden zusammengehalten werden kann – oder sollte. „Die Unterstützung für die territoriale Einheit des Irak liegt nicht mehr im Interesse der Türkei“, sagte Duman. Die türkische Führung habe eingesehen, dass der Irak auseinanderbrechen werde.

Die Herausbildung eines Kurdenstaats im Nordirak wird deshalb immer wahrscheinlicher. Die Behörden in der kurdischen Autonomiezone im Irak bereiten eine Volksabstimmung über die Frage der Unabhängigkeit vor; zudem haben sich die Kurden inmitten des IS-Vormarsches die Kontrolle über die ölreiche Stadt Kirkuk gesichert. Aus Ankara kam kein Protest. Mit gutem Grund, wie Duman findet: Ein Kurdenstaat wäre eine Pufferzone zwischen der Türkei und der „islamistischen Bedrohung“ durch die IS, die sich im Irak und Syrien möglicherweise länger etabliert, argumentierte er.

Wirtschaftlich profitiert die Türkei schon jetzt von den Autonomiebestrebungen der irakischen Kurden. Ankara leitet Öl aus dem kurdischen Teil Iraks an die Weltmärkte – sehr zum Unmut der irakischen Zentralregierung in Bagdad. Zugleich hat sich das durch den Ölboom bereicherte irakische Kurdistan zum zweitwichtigsten Abnehmer türkischer Exporte gemausert. Nur nach Deutschland gehen noch mehr türkische Ausfuhren. Auch innenpolitisch passt das türkische Wohlwollen den Kurden gegenüber ins Bild. Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan verhandelt mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Rebellenchef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), über eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts in der Türkei, der seit 1984 andauert und der mehr als 40.000 Menschen das Leben gekostet hat. Zudem hofft Erdogan bei der Präsidentenwahl am 10. August auf Wählerstimmen der rund 15 Millionen türkischen Kurden.

Einen eigenen Staat wollen die Kurden in der Türkei nicht mehr – selbst die PKK hat dieses Ziel aufgegeben. „Die Hälfte aller türkischen Kurden leben im Westen des Landes“, sagt Hugh Pope von der International Crisis Group. Die Kurden in der Türkei seien aufgrund der historischen Entwicklungen nicht mehr so zusammenhängend angesiedelt wie im Irak. Ankara könnte den Kurden im eigenen Land mit einer Stärkung regionaler und lokaler Behörden im Zuge einer „regulierten Dezentralisierung" entgegenkommen.