Führung der Ukraine will Militäreinsatz gegen Rebellen fortsetzen. Westen erwartet nach Genfer Vereinbarung von Russland Deeskalation

Kiew/Moskau/Washington. In der Ukraine ist auch nach dem überraschenden gemeinsamen Aufruf von Russland, dem Westen und der ukrainischen Führung für ein Ende der Gewalt keine Entspannung in Sicht. Die pro-russischen Separatisten, die in etwa zehn Städten der Ostukraine öffentliche Gebäude kontrollierten, zeigten sich am Freitag unbeeindruckt. Ihr Wortführer Denis Puschilin, Chef der selbst erklärten Volksrepublik Donezk, sagte, seine Männer fühlten sich durch Russlands Unterschrift nicht gebunden. Es gab keine Anzeichen, dass Rebellen wie gefordert Gebäude räumten oder Waffen abgaben.

„Alle Seiten müssen jede Form der Gewalt, Einschüchterung und provozierende Handlungen unterlassen“, heißt es in der am Donnerstagabend in Genf veröffentlichten gemeinsamen Erklärung der Außenminister Russlands, der Ukraine und der USA sowie der Außenbeauftragten der Europäischen Union (EU). Überraschend stimmte Russland darin dem Aufruf zu, alle illegal bewaffneten Gruppen zu entwaffnen und besetzte Gebäude zu räumen.

Im ostukrainischen Slowjansk kontrollierten Separatisten aber unverändert die Straßen. Über Nacht hatten sie die Barrikaden vor dem von ihnen besetzten Polizeihauptquartier noch erhöht. Puschilin sagte n Donetzk, Russlands Außenminister Sergej Lawrow habe in Genf nichts im Namen der Rebellen unterschrieben. Was die Räumung von Gebäuden angehe, so gelte das auch für die neue ukrainische Führung, denn die sei illegal ins Amt gekommen. „Wir sind bereit, es nach ihnen zu tun.“

Die ukrainische Führung kündigte ihrerseits an, dass ihre Militäraktion gegen die prorussischen Separatisten fortgesetzt werde. Sie hat bisher wenig Wirkung gezeigt. Regierungschef Arseni Jazenjuk sagte, die Ukraine habe nach dem Genfer Krisentreffen keine allzu hohen Erwartungen, dass sich die Lage beruhige. Die „Extremisten und Terroristen“ in der Ostukraine forderte er zur Aufgabe auf: „Kommt raus, eure Zeit ist abgelaufen.“ Zugleich hat Jazenjuk zugesagt, der russischen Sprache einen „Sonderstatus“ einräumen zu wollen. Die Regierung sei bereit zu einer breit angelegten Verfassungsreform, die den Regionen deutlich mehr Rechte geben solle, erklärte er in einer Ansprache an die Nation.

Der Westen erwartet von Russland, dass es mäßigend auf die Separatisten in der Ostukraine einwirkt. Darin waren sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und US-Präsident Barack Obama bei einem Telefonat am Donnerstagnachmittag nach Angaben einer Regierungssprecherin in Berlin einig. „Der Frieden ist noch nicht gewonnen, und wir sind noch lange nicht am Ziel“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Zumindest sei aber die Chance zurück, dass die Ukraine eine wirtschaftliche und politische Perspektive bekomme. „Der Lackmustest kommt ja noch“, sagte der Minister. US-Außenminister John Kerry drohte mit weiteren Sanktionen gegen Russland, wenn nach dem Oster-Wochenende nichts auf einen Rückzug der Separatisten hindeute.

Über einen möglichen Krieg in der Ukraine will auch Kremlchef Wladimir Putin lieber nicht mehr sprechen. Die Lage um die krisengeschüttelte Ex-Sowjetrepublik sei ohnehin so aufgeheizt. Dialog und Verhandlungen – wie bei den ersten internationalen Genfer Krisengesprächen – seien der Weg zu einer friedlichen Konfliktlösung. Was der Präsident in seiner fast vierstündigen Show „Direkter Draht“ im Staatsfernsehen sagte, soll nicht nur viele Russen beruhigen, die keinen Krieg gegen das Brudervolk der Ukrainer wollen. Auch der Westen, der die Rohstoffmacht nach dem umstrittenen Anschluss der Schwarzmeerhalbinsel Krim auf Annexions- und Okkupationskurs sieht, soll wohl gebremst werden in seiner Rhetorik. Ob denn nun wirklich kein russischer Einmarsch angesichts der Gewalt in der Ostukraine kurz bevorstehe, wollten viele auch nach Ende der Sendung wissen.

Manche träumen sogar von einer Rückkehr Alaskas nach Russland

„Jedes unbedachte Wort in einer solchen Situation kann negativ auf die Entwicklung des Prozesses einwirken“, warnte Putin. Diplomatie – darum gehe es jetzt. Eher beiläufig erinnerte Putin daran, dass er notfalls eine parlamentarische Vollmacht für einen Militäreinsatz habe, um die Bürger zu schützen. „Ich hoffe sehr, dass ich von diesem Recht keinen Gebrauch machen muss“, sagte Putin, der sich von den Zuschauern als „Sieger“ und „mächtigsten Mann der Welt“ loben ließ – ein Superheld, der die eigentlich zur Ukraine gehörende Krim ohne einen Schuss zurückgeholt habe. Dass viele Russen nun noch die russischsprachigen Teile der Ukraine zurückwollen und sogar das zu Zarenzeiten an die USA verkaufte Gebiet Alaska in Nordamerika, zeigte, wie groß der Hunger bei einigen ist. Doch Putin bremste die Erwartungen. „Was wollen Sie denn mit Alaska?“, sagte er. Auch der Antrag der Konfliktregion Transnistrien, wie die Krim nun ebenfalls Russland beizutreten, scheiterte vor laufenden Fernsehkameras. Der Streit um das von der Ex-Sowjetrepublik Moldau abtrünnige Gebiet müsse über internationale Verhandlungen gelöst werden, meinte der Präsident.

Hinweise auf russische Expansionspläne gab es also nicht im „Direkten Draht“. Gleichwohl erzählte der Gastgeber launig, dass die nun von Gewalt erschütterten Regionen im Osten der Ukraine eigentlich zu Zarenzeiten russisch waren und die Sowjetmacht sie – „weiß Gott, wieso“ – der Ukraine zugeschlagen habe. Noch einmal betonte Putin aber, dass die Krim, wo seit mehr als 200 Jahren die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, für Moskau ein Sonderfall sei. Schon aus geopolitischen Interessen habe Russland nicht zulassen können, dass dort eines Tages die Nato Quartier bezieht – oder die USA mit ihrer von Russland abgelehnten Raketenabwehr.