Syrische Regierung gibt dagegen einer Al-Qaida-Gruppe die Schuld für den Angriff. Aleppo, Hochburg der Opposition, steht kurz vor der Umzingelung

Aleppo. Menschen liegen am Boden, kreidebleich und mit weißem Schaum vor dem Mund. Kleinkinder husten fürchterlich und haben Atemprobleme. Aktuelle Videoaufnahmen von Aktivisten der syrischen Rebellen zeigen ähnliche Symptome wie die Opfer des Giftgasangriffs im August vergangenen Jahres in Damaskus. Damals waren Hunderte von Einwohnern in al-Goutha, einem Vorort der syrischen Hauptstadt, ums Leben gekommen. Der neue chemische Angriff soll in Kafr Zita stattgefunden haben. Die Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern liegt unweit der seit Wochen umkämpften Autobahn, die Hama mit dem 200 Kilometer südlich gelegenen Damaskus verbindet.

„Nonstop fielen Bomben. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens“, berichtete ein Beobachter der Rebellen aus Kafr Zita. Hubschrauber des Regimes hätten die berüchtigten Fassbomben abgeworfen, die dicken Rauch und unangenehmen Geruch verbreiteten. Fassbomben sind runde Ölbehälter, die mit Sprengstoff, Benzin und Metallteilen gefüllt werden, um die Wirkung zu verstärken. „Diese Bomben aus den Helikoptern führten zu akuten Atemproblemen und Vergiftungen“, sagte Rami Abdel Rahman vom Syrischen Observatorium für Menschenrechte in London. Dutzende Menschen sollen verletzt worden sein. Sollten sich die Berichte der Rebellen aus Kafr Zita bestätigen, wäre das der erste Einsatz von chemischen Waffen seit dem Gasangriff in Damaskus am 21. August 2013. Damals erwogen die USA einen Militärschlag gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad. Nach erfolgreichen Verhandlungen, Chemiewaffen zu vernichten, ließ Washington vom Militäreinsatz ab. Bisher sind allerdings nur 50 Prozent der tödlichen Chemiewaffen außer Landes transportiert worden.

Eine neuer Anschlag mit toxischen Stoffen könnte das Assad-Regime erneut unter Druck bringen. Hassan Nasrallah, Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, die aufseiten der syrischen Armee kämpft, hatte vor Kurzem verkündet, die Regierung in Damaskus sei so stabil wie nie zuvor seit Beginn des über drei Jahre andauernden Bürgerkriegs. Die schiitische Miliz aus dem Nachbarland hatte den Regimetruppen zu entscheidenden militärischen Siegen verholfen. Aber nach den Vorkommnissen in Kafr Zita könnte sich die Situation schlagartig ändern.

US-Präsident Barak Obama hatte den Einsatz chemischer Waffen als rote Linie bezeichnet, deren Überschreitung nicht toleriert werden würde. Ein erneuter Giftgasangriff könnte die Assad-Regierung zum zweiten Mal an den Rand einer Militärintervention der USA bringen.

Das syrische Staatsfernsehen gab einer Al-Qaida-Gruppe die Schuld für den Angriff in Kafr Zita: „Es gibt Informationen, dass die Terroristen von Jabhat al-Nusra giftiges Chlor freisetzten und sogar weitere Anschläge in der Region planen.“ Chlor ist eines der meistproduzierten chemischen Stoffe und wird meist zur Reinigung von Wasser benutzt. Als Gas kann es jedoch tödlich sein. Deutsche Truppen hatten es im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Seit dem Genfer Protokoll von 1925, das auch Syrien unterschrieben hat, ist die Benutzung von Chlor als Waffe verboten. Russland, neben dem Iran der wichtigste Verbündete des Regimes, beschuldigt die Rebellen, bereits einige Male zuvor tödliches Chlorgas eingesetzt haben. Bisher haben sie dafür jedoch keine Beweise vorgelegt.

Die Ereignisse in Kafr Zita könnten im syrischen Bürgerkrieg zu einer weiteren Eskalation führen. Das Regime begann im Dezember 2013 mit bisher unbekannter Härte eine landesweite Offensive. Es eroberte alle Rebellenstädte der Kalamun-Region entlang der libanesischen Grenze. Aleppo, die einstige Industriemetropole des Landes, steht kurz vor der Umzingelung. Es fehlen nur noch 19 Kilometer, bis die Hochburg der Opposition im Norden völlig eingekreist ist. Ständig kreisen Kampfflugzeuge über der Stadt. Durch ihr Dröhnen sind sie nicht zu überhören. Die Hubschrauber jedoch, die Fassbomben abwerfen, fliegen in großer Höhe und sind kaum auszumachen. Es ist ein beklemmendes Gefühl, denn jeden Augenblick kann überall eine dieser Bomben niedergehen. Vielfach passiert man Gebäude, die vor wenigen Minuten zerstört worden sind. Verzweifelt suchen Menschen mit bloßen Händen nach Überlebenden und Brauchbarem. Sobald wieder ein Rauschen über den Himmel dröhnt, richten sich die Augen nach oben. Sollte es näherkommen, sucht man panisch irgendwo Schutz.

Die meisten Straßen Aleppos sind menschenleer. „Es können an einem Tag bis zu 50 Fassbomben fallen“, sagt Dr. Osman al-Hadsch Osman in einem Krankenhaus der Stadt. „Das Regime hat das Leben für Zivilisten unmöglich gemacht. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die Stadt verlassen. Nur die Ärmsten der Armen bleiben.“ Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind seit November 2013 mindestens 2401 Menschen in Aleppo ums Leben gekommen.