Funksprüche untermauern den Verdacht, dass nicht nur Janukowitschs Männer mordeten. Auch Russland und die Opposition geraten unter Verdacht

Kiew. Auf der Institutska Straße in Kiew erinnern Holzkreuze und Blumen an die Toten der Maidan-Revolution. Zwischen dem 18. und 20. Februar beschossen Heckenschützen Demonstranten auf der Straße, die vom Unabhängigkeitsplatz am Hotel Ukraina vorbei ins Regierungsviertel führt. 104 Demonstranten starben infolge der Unruhen. Sie werden als „Hundertschaft des Himmels“ verehrt. Auch mindestens 20 Polizisten kamen während des Aufstandes ums Leben. Die ukrainische Staatsanwaltschaft macht Ex-Präsident Viktor Janukowitsch und den russischen Geheimdienst FSB für die Todesschüsse verantwortlich. Doch an der Version der Justiz gibt es erhebliche Zweifel. Die Staatsanwaltschaft habe nicht gründlich genug ermittelt, kritisieren Ärzte, Maidan-Kämpfer und Rechtsanwälte. Nun legt das ARD-Magazin „Monitor“ Beweise über abgefangene Funksprüche vor, die den Verdacht einer dritten Partei untermauern, die an den Morden beteiligt gewesen sein soll.

Für Generalstaatsanwalt Oleg Machnizkij stehen die Schuldigen fest: Die gefürchtete und Ende Februar aufgelöste Spezialeinheit Berkut habe auf die Demonstranten auf der Institutska Straße gefeuert. Innerhalb der Berkut, sagt Machnizkij, habe eine Gruppe mit dem Namen Schwarze Einheit operiert. Deren Scharfschützen seien an den Morden beteiligt, sagt der Jurist weiter. Vergangene Woche verhaftete die Polizei zwölf ehemalige Berkut-Polizisten sowie den Chef einer Firma, die an die Einheit Waffen ausgegeben haben soll. „Die Janukowitsch-Regierung hatte kriminelle Befehle erteilt“, sagte Innenminister Arsen Awakow.

Anwälte, Ärzte und Maidank-Aktivisten bezweifeln die Version der Staatsanwaltschaft. Auch ein Ermittler, der anonym bleiben will, widerspricht dem offiziellen Bericht. „Meine Untersuchungsergebnisse stimmen nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft in der Pressekonferenz erklärt hat“, sagte der Kriminalbeamte „Monitor“. Er bezweifle, dass einige der Todesschützen tatsächlich im Auftrag der Regierung handelten. Untermauert werden die Indizien von Funksprüchen, die ein Amateurfunker am 20. Februar abfing und die dem ARD-Magazin vorliegen. Auf den Aufzeichnungen ist ein Gespräch zwischen ukrainischen Scharfschützen zu hören, die offenbar dem Regierungslager angehörten und auf den Dächern rund um den Maidan postiert waren. „Wer hat da geschossen? Unsere Leute schießen nicht auf Unbewaffnete“, sagt einer der Schützen. Kurze Zeit später sagt ein anderer: „Den hat jemand erschossen. Aber nicht wir.“ Und weiter: „Gibt es da noch mehr Scharfschützen? Und wer sind die?“

Die unbekannten Scharfschützen sollen am 20. Februar vom Hotel Ukraina auf Demonstranten auf der Institutska Straße geschossen haben. Insgesamt starben an dem Tag 41 Demonstranten und drei Polizisten. „Wir wurden von vorn beschossen und auch von hinten, etwa aus der achten oder neunten Etage des Hotels Ukraina“, sagt ein Augenzeuge und fügt hinzu: „Das waren auf jeden Fall Profis.“ Die Scharfschützen seien einer dritten Partei zuzurechnen, soweit sind sich die Staatsanwaltschaft und ihre Kritiker einig. Aber wer hatte die Killer beauftragt? Der russische Geheimdienst (FSB) sei an der Ermordung der Maidan-Demonstranten beteiligt gewesen, erklärt Valentin Nalywaitschenko, Chef des ukrainischen Geheimdienstes (SBU). Russische Agenten hätten sich während der Unruhen im Hauptquartier ihrer ukrainischen Kollegen aufgehalten, sagt Nalywaitschenko weiter, und auf dem Gelände des ukrainischen Dienstes trainiert.

Während der Maidan-Revolution hätten dann fünf Gruppen mit jeweils vier Scharfschützen auf Dächern um den Maidan gestanden, sagte Andrej Parubij, Chef des Ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates schon im März. Vier Einheiten seien aus Russland, eine aus Weißrussland gewesen, fügte er hinzu. Zudem hätte der FSB 5100 Kilogramm Sprengstoff und andere Waffen nach Kiew geschmuggelt, „um die Maidan-Proteste zu zerschlagen“, erklärt SBU-Chef Nalywaitschenko weiter. Er verweist auf Berichte, die FSB-Agenten dem früheren Chef des ukrainischen Geheimdienstes übermittelt hätten. Russland bestreitet die Anschuldigungen und antwortet mit eigenen Vorwürfen. Vergangene Woche verhaftete die russische Polizei 25 Ukrainer, die rechtsradikalen Gruppen angehören und Bombenanschläge geplant haben sollen.

Europarat droht Russland mit Ausschluss aus dem Gremium

Doch es gibt noch einen anderen schweren Verdacht: Das Hotel Ukraina, von dem Schüsse abgefeuert worden sein sollen, befand sich am 20. Februar in der Hand der Opposition – jedenfalls durchsuchten die Demonstranten das Haus regelmäßig nach Janukowitschs Sicherheitsmännern und Schützen. Offiziell erhielten nur Hotelgäste, Mediziner, Maidan-Aktivisten und akkreditierte Journalisten Einlass. Wie konnten also bewaffnete Scharfschützen in dem Hotel operieren?

In der Ukraine-Krise wird der Ton zwischen Russland und dem Westen unterdessen immer rauer. Die parlamentarische Versammlung des Europarates entzog den 18 russischen Abgeordneten vorläufig das Stimmrecht. Zudem drohte das Gremium in Straßburg mit dem vollständigen Ausschluss, falls Moskau die Annexion der Krim nicht rückgängig mache, hieß es in der Resolution. Die russische Delegation verließ aus Protest den Sitzungssaal. Der 1949 gegründete Europarat dient als Forum für Debatten über Menschenrechtsfragen. Ihm gehören Mitglieder aus 47 Ländern an.

Russlands Präsident Wladimir Putin warf der EU dagegen Untätigkeit vor. „Was ist mit unseren europäischen Partnern? Anstatt der Ukraine wirkliche Hilfe anzubieten, reden sie über eine Absichtserklärung“, hieß es in dem fünfseitigen Schreiben. Putin verwies darauf, dass man das Nachbarland in den vergangenen vier Jahren mit 35,4 Milliarden US-Dollar (heute 25,5 Milliarden Euro) unterstützt habe. Der Kremlchef: „Niemand außer Russland hat geholfen.“ Moskau hat zudem Sanktionen gegen das Land als sinnlos bezeichnet und besonders Deutschland vor Schaden an der langjährigen Partnerschaft gewarnt. „Je striktere Sanktionen verhängt werden, desto fester wird die russische Gesellschaft sich verhalten“, sagte Vize-Ministerpräsident Igor Schuwalow in Berlin.