Erst liberal, dann radikal: der Wandel des neuen und alten Regierungschefs in Budapest

Budapest. Zwei junge ungarische Antikommunisten befanden sich 1981 in einem moralischen Dilemma. Viktor Orbán und sein Weggefährte Gábor Fodor leisteten ihren Wehrdienst ab. Zufällig in einer Elite-Einheit, deren Aufgabe es war, auf Befehl Moskaus in anderen Ländern des Warschauer Paktes zu intervenieren, falls dort die Macht der Kommunisten ins Wanken geriete. Und es war so weit: In Polen erschütterte die Solidarnosc-Bewegung das Regime. Die beiden Antikommunisten Orbán und Fodor grübelten, was sie denn machen sollten, wenn sie auf Antikommunisten in Polen schießen sollten. Fodor kam zu dem Schluss, dass er desertieren würde. Orbán beschloss, einfach nicht darüber nachzudenken, solange sich die Situation nicht konkretisierte. So steht es in Igor Jankes neuer polnischer Orbán-Biografie.

Die Momentaufnahme zeigt einen wesentlichen Charakterzug Orbáns: Er ist ein Pragmatiker, ein Mann, der nicht deswegen den Kommunismus ablehnte, weil dieser moralisch böse, sondern ineffizient war. Er wollte ein Ungarn, das funktioniert. Einer seiner Kernsätze lautet: Stabilität ist ein Wert. Damit wurde er in den Wirren und Krisen der Wende und der labilen Jahrzehnte danach zum prägendsten Politiker Ungarns seit dem Ende des Kommunismus. Am Sonntag errang er seinen dritten Wahlsieg. Wenn nichts dazwischenkommt, wird er Ungarn bis 2018 insgesamt zwölf Jahre lang regiert haben.

Der anfangs liberale Orbán erkannte ganz pragmatisch in den 90er-Jahren, dass im linksliberalen Lager kein Platz mehr war für eine neue Kraft – konkret also für ihn. Er erkannte auch, dass rechts ein Vakuum entstand: Die bürgerlich-konservative Partei MDF darbte. Orbán stieß entschlossen in die Lücke vor, krempelte Fidesz um, kegelte die Liberalen um Gábor Fodor aus der Partei. Er wurde Christ und erkannte, was Ungarn fehlte, um zu „funktionieren“: ein bürgerlicher Mittelstand, funktionierende Familien, mehr Kinder. Er verehrte als seine Vorbilder Helmut Kohl und ein wenig auch Franz Josef Strauß. Und so sah seine erste Regierungszeit aus: 1998 bis 2002 versuchte er aus Ungarn ein kleines Deutschland zu machen.

Die Wirtschaftsdaten für Ungarn verbesserten sich. Trotzdem wurde er 2002 wider alle Erwartungen knapp abgewählt, nach einem von den Sozialisten sehr schmutzig geführten Wahlkampf. Der Pragmatiker Orbán erkannte, dass man mit harten Bandagen kämpfen muss. Als er 2010 wieder an die Macht kam, wollte er nichts mehr dem Zufall überlassen. Fidesz-nahe Firmen profitierten vorrangig von Staatsaufträgen. Die überwiegend linken Medien hatten ihn 2002 entscheidend beschädigt; nun kam ein scharfes Mediengesetz. Die öffentlich-rechtlichen Medien wurden durch Entlassungen auf Linie gebracht. Fidesz-nahe Unternehmer kauften finanziell angeschlagene private Massenmedien auf.

In der veränderten Lage nach der Weltwirtschaftskrise meinte der auf Effizienz bedachte Orbán zu erkennen, dass Ungarn einen neuen Weg gehen musste, um zu „funktionieren“. Mehr Staat, weniger Privatwirtschaft. Und so kam es einerseits zu den umstrittenen Sondersteuern gegen Dienstleistungs-Multis, andererseits zu einer Kehrtwende im Vergleich zu Orbáns einstiger Privatisierungspolitik. Im Wert von 2,2 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung von 2013 kaufte die Regierung „strategische“ Konzerne zurück, vor allem im Energiebereich. In den nächsten vier Jahren dürften es noch mehr werden. Um seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen besser durchsetzen zu können, brach Orbán die Unabhängigkeit der Zentralbank. Als das Verfassungsgericht dazwischenfunkte, wurden dessen Kompetenzen beschnitten. Er will straff durchregieren, weil er meint, dass in der globalisierten Welt kürzere Reaktionszeiten nötig sind.

Aber nun hinderten Proteste und Drohungen aus Brüssel Orbán daran, seine „Optimierungsbemühungen“ noch radikaler umzusetzen. Seine EU-Politik bestand darin, die Grenzen auszuloten, bis zu denen er Ungarns Handlungsspielraum ausweiten konnte. Noch effizienter wäre es, meint Orbán, wenn keine Opposition die Harmonie stört. Demgegenüber hatte die linke und liberale Seite keine inhaltlichen Ideen. Sie beging den Fehler, Orbán von anderen besiegen lassen zu wollen. Flehbriefe wurden an die EU und nach Washington geschickt: In Ungarn herrsche Diktatur. Der Effekt war verheerend, die Bevölkerung stellte sich hinter Orbán oder gesellte sich zur noch europakritischeren rechtsradikalen Jobbik-Partei. Die begründete auf der Basis von Hetze gegen die Roma-Bevölkerung schon 2010 einen Wahlerfolg. Orbán konterte, indem er auch auf EU-Ebene gutgeheißene Roma-Integrationsstrategie durchsetzte, die bereits erste Erfolge zeitigt. Als er am Sonntagabend mit 45 Prozent der Stimmen seinen dritten Wahlsieg feierte, sagte er klar, dass er fortan Jobbik als neuen Hauptgegner sieht und neue pragmatische Prioritäten setzen will: Das Land kann nicht funktionieren, wenn es aus der EU aussteigt, wie Jobbik es will.

Die Wahl für Fidesz, so sagte er, war ein „Ja zu Europa“.