Massenvergewaltigungen, Mädchenhandel, Abtreibungen weiblicher Babys, arrangierte Ehen und Mitgift-Morde – das Verhältnis der Geschlechter auf dem Subkontinent wird allzu oft von Gewalt und Habgier bestimmt.

Was ist los in Indien? Was geht da ab mit den indischen Männern? Woche für Woche neue Schreckensmeldungen von Vergewaltigungen. Vor Kurzem erst die Massenvergewaltigung einer jungen Frau, die vom Dorfältesten als „Strafe“ angeordnet worden war (s. unten rechts). Vor einem Jahr das Drama einer 23 Jahre alten Studentin, die nach einer Gruppenvergewaltigung und grausamen Misshandlung an ihren Verletzungen starb.

Die Täter werden zwar für indische Verhältnisse schnell – nach acht Monaten – verurteilt. Das Land und vor allem die rund 600 Millionen Frauen stehen jedoch seitdem unter Schock. Wochenlang demonstrieren Frauen und Männer gegen die steigende Zahl der Vergewaltigungen. Die Polizeistatistik ist erschütternd: In einem Jahr ist allein in der Hauptstadt Neu-Delhi die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen von 706 auf 1450 gestiegen. Die Dunkelziffer, sagen alle Fachleute, sei sehr viel höher. Zwar gibt es jetzt immerhin ein Gesetz zum Schutz der Frauen, und die Polizei hat strenge Regeln erlassen, dass Frauen bei einer Anzeige menschenwürdig und vertrauensvoll behandelt werden müssen. Aber noch ist Indien weit entfernt von einer für Frauen freundlichen Gesellschaft. Im Gegenteil: Unverändert ist der Subkontinent laut der Vereinten Nationen das gefährlichste Land für Frauen auf der Welt.

Die Diskriminierung beginnt schon vor der Geburt: In den vergangenen 20 Jahren wurden zehn Millionen weibliche Föten abgetrieben. Auf Betreiben der Väter oder Schwiegereltern. Denn Mädchen kosten später Mitgift. Bis zu 15.000 Euro werden bei der Hochzeit von der Familie des Mannes gefordert. Viel Geld in einem Land, in dem nur rund 300 Millionen der 1,24 Milliarden Menschen zu einer halbwegs wohlhabenden Klasse gezählt werden können. Die anderen rund 900 Millionen bleiben Ausgeschlossene. Der aufkeimende Reichtum entsteht auf ihrem Rücken. Sie arbeiten gegen Hungerlöhne als Fahrer, Kinderfrauen oder Wachmänner für die neue Mittelschicht. Eine Mitgift für eine Tochter ist bei ihnen nicht drin. Sie sind zu arm.

Zwar ist die vorgeburtliche Bestimmung des Geschlechts eines Baby seit 1992 per Gesetz verboten. Aber es gibt andere Mittel und Wege: Die Ärztin Mitu Khurana etwa fiel auf den Trick mit einem vergifteten Kuchen herein. Als sie deshalb ins Krankenhaus musste, stellte der Arzt bei einer Ultraschalluntersuchung fest, dass sie zwei Mädchen erwartet. Von diesem Augenblick an begann der Terror zu Hause: Ihr Mann, ebenfalls Arzt, warf sie mehrfach die Treppe herunter, sperrte sie danach ein, wohl in der Hoffnung auf eine Fehlgeburt. Mitu Khurana wurde geschlagen, psychisch unter Druck gesetzt. Bis ihre Eltern sie abholten. Die Zwillinge kamen dann im Elternhaus zu früh zur Welt. Sicher auch dem Stress der Mutter geschuldet. Aber sie überlebten, sind heute acht Jahre alt. Mitu Khurano lebt jetzt ganz bei ihren Eltern. Eine schmutzige und sündhaft teure Scheidung läuft – und sie ist als bisher einzige Frau in Indien den Weg in die Öffentlichkeit gegangen. Die Millionen Abtreibungen kleiner Mädchen auf Druck der Männer und Schwiegerfamilien aber werden unter einem Mantel des Schweigens verborgen. Indiens Frauen leiden und sind stumm. Das ist das nächste Drama.

Das Fatale: Wegen der Abtreibungen fehlen seit Jahrzehnten Mädchen und Frauen in Indien. Kommen in den Industrienationen statistisch 106 Jungen auf 100 Mädchen, sind es in Indien inzwischen 113 Jungen auf 100 Mädchen. Längst ziehen mafiöse Banden durch das riesige Land – auf der Jagd nach jungen Mädchen. „Trafficking“ heißt das dort. Frauenhandel. Sie entführen die Mädchen in den Dörfern oder locken sie mit falschen Versprechungen. Dann werden sie verkauft. An Männer, die eine Frau fürs Haus, fürs Feld und fürs Bett suchen. Wenn die dann nicht so spurt, verkauft der Mann sie wieder. Ich habe junge Mädchen kennengelernt, die vier-, fünfmal von einem Mann zum anderen verkauft wurden. Und am Schluss in einem Bordell in einer der Großstädte landeten. „90 Prozent der Inder sind kriminell“, sagt Charu Wali Kann, Rechtsanwältin der nationalen Kommission für Frauen.

Unverändert gelten Mädchen als nutzlos, weil sie nur Geld kosten. Also am besten: gar nicht erst zur Welt kommen lassen oder nach der Geburt töten. Oder wenigstens zu Geld machen – nämlich verkaufen. Mit der Hilfsorganisation Shakti Vahini kann ich eines Abends in Delhi erleben, wie sie zwei junge Frauen aus den Fängen von Menschenhändlern befreit. Die 15 Jahre alte Sarifan kann alles noch gar nicht fassen. Sie sitzt auf der Bettkante in einem Gästezimmer der bengalischen Botschaft, die der Polizei die Zimmer zur Verfügung stellt. Für 90.000 Rupien, umgerechnet 1100 Euro, sollte sie gerade zum dritten Mal verkauft werden. Mit Hormonspritzen und Bier haben die Menschenhändler sie älter und weiblicher gemacht. Damit keiner der Freier auf die Idee kommt, er habe es mit einer Minderjährigen zu tun. Die andere, Muktidas, ist 23 Jahre alt. Mit nie gehaltenen Versprechen wurde sie von den Händlern bei ihren Eltern weggelockt. Eine weibliche Polizeieinheit unterstützt Shakti Vahini. Ob die beiden jungen Frauen je wieder in ein normales Leben können? „Nur“, so sagen mir die Polizistinnen ganz leise, „wenn bei ihren Eltern nicht herauskommt, dass sie in der Prostitution gelandet waren.“

„Wie sicher sind in Deutschland Mädchen auf der Straße?“ Diese Frage wird mir bei meinen Recherchen immer wieder gestellt. Vor allem von jungen Frauen, die ab 17 Uhr allesamt nicht mehr auf die Straße gehen. Die sich nur in Gruppen in die Städte trauen und möglichst noch bei Tageslicht ihren Toilettengang erledigen. Denn weil mehr als 80 Prozent aller Wohnungen und Häuser in Indien keine eigene Toilette haben, müssen die Menschen dafür ihr Zuhause verlassen. Auf dem Land gehen sie auf die Felder. Und das ist – erst recht für Mädchen und Frauen – bei Dunkelheit ein gefährlicher Ort.

In der 16-Millionen-Stadt Delhi gibt es inzwischen allerdings einen sicheren Ort für Frauen: die neue, blitzsaubere U-Bahn. Die hat Frauenabteile: „Women only“ steht da am Bahnsteig. Männer verboten. Die drängen sich jetzt in anderen Waggons. Entstanden ist die Enklave für Frauen, weil indische Männer wohl ein besonderes Vergnügen daran finden, Frauen in Bussen und Bahn zu berühren. Sie pressen sich gerne unziemlich an sie und lieben es, Frauen mit eindeutig sexuellen Gesten zu verängstigen.

Es gibt aber noch andere, weit dramatischere Situationen für Frauen: eine arrangierte Ehe, bei der eine hohe Mitgift geflossen ist. Das ist zwar seit 1985 gesetzlich verboten. Aber: Wer will prüfen, ob die Motorräder, Juwelen, Bargeldzahlungen und oft ganze Häuser wirklich nur „Geschenke“ sind? So werden Frauen auch hier wieder zur Ware.

Wenn dann allerdings „die Ware“ nicht den Ansprüchen genügt, wenn die Gier nach mehr Geld und Gold die Schwiegerfamilie zu immer schlimmeren Handlungen gegenüber der jungen Ehefrau treibt – dann kommt es im schlimmsten Fall zu einem sogenannten Mitgift-Mord. Alle 77 Minuten, sagt die indische Statistik, geschieht das einer jungen Frau. Nicht mitgezählt die Millionen Selbstmorde. Junge Ehefrauen nehmen sich das Leben, weil sie die Misshandlungen durch die Schwiegermutter oder den Ehemann nicht mehr aushalten.

Wissenschaftler warnen schon lange, dass männlich dominierte Gesellschaften zu Gewalt neigen. Indien ist das einzige Land auf der Welt, in dem mindestens 50Millionen Frauen fehlen. Ist das Fehlen von Frauen der Grund für die wachsende Gewalt gegen sie?

Abends ab 20 Uhr ist es rund um den Connaught-Platz in Neu-Delhi stockdunkel. Im Park treffen sich die jungen Leute. Hier trauen sie sich Händchen zu halten, auf der Wiese zu sitzen, zu schmusen und sich zu küssen. Sie trauen sich, alles zu tun, was sie in den geliebten Bollywood-Filmen sehen, aber nicht im Alltag tun dürfen. Es wird aber wohl noch Jahrzehnte dauern, bis sich die Sexualerziehung in diesem Land der 1,24 Milliarden Menschen verändert. Bis dahin werden uns noch täglich Meldungen von schlimmen Vergewaltigungen erreichen.

Eine bittere Erkenntnis.