Was wollen die Ägypter – mehr Islam? Mehr Frauenrechte? Eine bessere Justiz? Autor Asiem El Difraoui berichtet darüber in Hamburg.

Hamburg. Nihal ist IT-Ingenieurin in Kairo und kennt den Tahrir-Platz gut - den „Platz der Befreiung“, der im Ägyptischen Frühling im Januar und Februar 2011 auch ein Platz der Frauenbefreiung war. Aber ein Jahr später, als sie dort mit Freunden gegen das milde Urteil gegen den früheren Machthaber Husni Mubarak demonstrieren wollte, kam es zur Katastrophe. In einer Nebenstraße wurden sie und ihre Freundin von einer Gruppe unbekannter Männer vergewaltigt. Übergriffe, die sich damals häuften: Die Polizei guckte weg, viele Männer wollten keine protestierenden Frauen auf den Straßen. Inzwischen gründete Nihal den Verein Bassma, der das Thema publik macht und Frauen ermutigt, solche körperliche Gewalt anzuzeigen.

Nihal ist eine von vielen Menschen, die Asiem El Difraoui 2013 in Ägypten traf. Vor und nach dem Sturz des Präsidenten Mursi war der Politologe und Dokumentarfilmer in dem Land am Nil unterwegs, interviewte Landbewohner und Städter, junge Revolutionäre und Fußballfans, Salafisten, Muslimbrüder, Lehrer und Beduinen. Also alle diejenigen, die sich allmählich ihrer Kraft bewusst werden, aber noch auf politisch schwankendem Boden stehen. „Die Ägypter sind ein Volk, das sich nicht kennt“ – der Satz eines jungen Filmemachers bringe die Lage auf den Punkt, sagt Difraoui. Das Ergebnis seiner Recherchen, sein Buch „Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Aufruhr“, hat Difraoui am Donnerstag im KörberForum vorgestellt, das bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Ägypten sei nicht nur Kairo, sagte der Autor, Sohn einer Deutschen und eines Ägypters, der teilweise am Nil gelebt hat. „Andere Gebiete des Landes kommen in den Berichten zu kurz.“ Zum Beispiel der Fischer auf dem Roten Meer, der für seinen Fang umgerechnet 60 Euro im Monat bekommt und davon „weder leben noch sterben kann“, wie er selbst sagt. Ihm hat der Umsturz nichts gebracht. Zu kurz kommt auch die Bäuerin Marjam aus dem Oasengebiet Fayyum, Ägyptens Gemüsegarten, deren Felder nur 60 Euro pro Monat einbringen – zu wenig für ihre vierköpfige Familie. Sie hatte zuerst auf die Muslimbrüder und Mursi gehofft. Aber die träumten von Ägyptens „Selbstversorgung“, vernachlässigten Exportprodukte wie Früchte und Gemüse, sodass Ägypten für teures Geld Millionen Tonnen Getreide dazukaufen musste. Oder der Salafist Dr. Hatem hingegen, erfolgreicher Kinderarzt in Kairo, der ganz auf die erzieherische Wirkung des Islam setzt, eines „Islam ohne Zuckerguss“.

Die Vielfalt der alten und neuen Akteure – von Muslimbrüdern und Salafisten bis hin zu den Frauenbündnissen und Liberalen – ist selbst für Ägypter ungewohnt. Zumal die Salafisten etwa keine homogene Gruppierung seien, ebenso wenig wie die Muslimbrüder. Auf die enormen wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes hätten aber beide keine Antwort. „Die Muslimbrüder haben die alten pharaonischen Machtstrukturen ihrer Vorgänger einfach nachgeahmt“, sagt er. Pharaonisch heißt: die eigene Macht stabilisieren, die eigene Klientel stärken. So funktioniere ganz Ägypten, sagt Difraoui. Auch die aktuelle Militärregierung setzt vor allem auf den Erhalt der Privilegien der alten Elite und der Armee, erklärte er: Ägyptens Militär ist eine Wirtschaftsmacht, besitzt Rüstungsbetriebe, Großbäckereien, Luxushotels, Krankenhäuser und Ferienheime. Politisch wolle die Armee aber nicht in der ersten Reihe, sondern als ordnender Strippenzieher im Hintergrund stehen. Vielen Ägyptern ist sie zu repressiv, für andere aber zurzeit die einzige Institution im Land, die noch funktioniert. Al-Sisi könnte das offenbar nutzen und als Präsident kandidieren. „In Kairo werden schon Pralinen und Unterwäsche mit seinem Konterfei verkauft“, erzählte Difraoui zur Erheiterung seiner Zuhörer.

Was die Ägypter wollten, hätten sie schon auf dem Tahrir-Platz skandiert: soziale Gerechtigkeit, eine funktionierende Justiz; die Chance, korrupte Politiker zur Verantwortung zu ziehen. Nur hätten sie wenig Übung, sich zu einigen: „Die Ägypter kennen sich nicht nur nicht, sie schaffen es auch noch nicht, einen Konsens zu finden.“ Zwar lasse sich die Bevölkerung, gerade die Mittelschicht, heute nicht mehr bevormunden. „Aber die Gesellschaft hat noch keine reife politische Kultur. Und die politische Mitte ist schwach. Das ist vielleicht das Drama.“

Asiem El Difraoui: Ein neues Ägypten?edition Körber-Stiftung, 264 S., 16 Euro