Viele Athener können sich keine Arztbesuche oder Medikamente mehr leisten. Der Kardiologe Giorgos Vichas hat in der Krise eine Klinik für Arme aufgebaut

Ganz am Ende spricht Giorgos Vichas doch noch über die große griechische Geschichte, über das alte Athen. Dort gab es die erwachsenen Bürger, die Polites. Der Philosoph Aristoteles sah in ihnen einen politischen Menschen, einen, der über Herrschaft in der Polis mitbestimmt. Er sah darin einen Menschen, der sich einmischt.

Einen, der nicht schweigt.

Und es gab die andere Sorte Menschen, die Idiotes. Das waren Bürger, die nur für sich selbst sorgten. Einer, dem die Politik egal war, Hauptsache, ihm selbst geht es prächtig. Giorgos Vichas sagt, dass es bis zum Beginn dieser ganzen großen Krise ziemlich viele dieser Idiotes in Griechenland gab. Und nun, wo Arbeitslosigkeit, Armut und Schulden dieses alte ehrwürdige Land, diesen Ursprungsort europäischer Demokratie runterziehen in die Gosse des Kontinents, jetzt erst, im Angesicht der Katastrophe, sind sie da: die Polites. Menschen, die nicht mehr schweigen, nicht alles einfach so hinnehmen.

Menschen wie Giorgos Vichas. „Wir haben mehr als 2000 Jahre gebraucht, um zu merken, dass nicht jeder einfach nur auf sich gucken darf. Wir haben 2000 Jahre gebraucht, um Aristoteles und Platon zu verstehen“, sagt er.

Es läuft das sechste Jahr der Krise. Wer heute über Griechenland liest oder einen Bericht im Radio hört, erfährt nichts mehr vom schönen Urlaubsland, vom guten Essen, von dieser langen Kultur. Es geht um Schulden, Rettungsschirme, Europäische Zentralbank, um Reformen und den Spardruck der anderen EU-Staaten wie Deutschland auf das Land an der Ägäis. Aber was macht die Krise aus den Menschen? Wie geht es den Griechen? Meist verhallt ihre Stimme auf den Straßen Athens.

Den Menschen, die zu Giorgos Vichas kommen, geht es schlecht. Vichas ist Arzt in einem staatlichen Krankenhaus in Athen. Der Kardiologe operiert kranke Herzen. Aber er operiert in einem Gesundheitssystem, das in den vergangenen Jahren in die Knie gespart wurde. 2009 gab der Staat 14 Milliarden Euro für sein Gesundheitswesen aus. 2012 waren es noch gut neun Milliarden. Budgets der Krankenhäuser wurden teilweise um 40 Prozent gekürzt. Es fehlen Ärzte und Medikamente.

Und das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite leben Menschen, die ihre Arbeit verloren haben. Viele können sich keine Krankenversicherung mehr leisten – und damit auch keine Behandlungen. Laut OECD sind die Ausgaben der Griechen für Gesundheit zwischen 2009 und 2011 um elf Prozent gesunken, so stark wie in keinem anderen Land in Europa. Im September war fast jeder dritte Grieche ohne Arbeit, und fast zwei von drei Jugendlichen. Beides ist Negativrekord in der EU.

Giorgos Vichas hat eine leise Stimme. Er klingt nicht wie einer, der auf Demonstrationen laut Parolen ruft, sein Blick ist ein wenig müde, am Abend vorher hielt er in der Asklepios Klinik in Barmbek einen Vortrag über den Zusammenbruch des staatlichen Gesundheitswesens in Griechenland. Und er erzählte von seiner Klinik. So wie jetzt, hier, im wuseligen Café Paris, nahe dem Hamburger Rathaus.

Es war Frühjahr 2011, als sich in Giorgos Vichas der Polites empörte. Ein Patient kam zu ihm ins Krankenhaus. Er kannte ihn lange, der Mann hatte zwei Herzinfarkte, immer wieder war er zur Behandlung bei Vichas. Aber jetzt hatte er ihn fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Der Mann hatte seinen Job verloren, das Geld für Herztabletten fehlte, also musste er ohne auskommen. Als der Mann zu Vichas kam, hatte er eine schwere Lungenembolie, weil sein Herz nicht mehr kräftig schlug.

Seit der Sparpolitik muss ein Mensch entweder krankenversichert sein oder aus eigener Tasche bezahlen, damit ein öffentliches Krankenhaus ihn behandelt. Selbst Patienten, die versichert sind, zahlen oft im Voraus, weil die Versicherungen so verschuldet sind, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr decken können. Die Folge: Immer mehr Kranke bleiben einfach zu Hause.

Und ein guter Freund sagte zu Vichas: „Giorgos, du bist Arzt. Du musst etwas tun!“ Im Dezember 2011 gründete er gemeinsam mit vier anderen Ärzten die Sozialklinik Elliniko. So heißt der Bezirk in Athen. Das Amt stellte Vichas und seinen Kollegen ein Gebäude auf einer früheren Luftwaffenbasis der Amerikaner bereit. Und die Stadt zahlt die Kosten für Strom und Wasser.

In den ersten acht Monaten kamen etwa 1200 Patienten in die Sozialklinik. Heute sind es meist mehr als 3000. Pro Monat. Wenn Vichas’ Schicht im staatlichen Krankenhaus endet, fährt er nach Elleniko. Fast jeden Tag ist er da. Manche Kollegen kommen einmal in der Woche, andere an zwei oder drei Tagen. Mittlerweile ist ein ganzes Netz an Zahnärzten, Psychologen oder Hautärzten entstanden. Jeder tut, was sie oder er kann. Und wenn es nur eine Stunde in der Woche ist.

Es gibt die kleine Klinik und ihre großen Geschichten. Die schönen und die schockierenden. Die meisten Neugeborenen, die auf das alte Militärgelände kommen, sind unterernährt. Eine Mitarbeiterin von Vichas hat einmal erlebt, wie ein Kind an einer Bronchitis litt. Die Ärztin habe ihr dann ein bitter schmeckendes Antibiotikum gegeben. Das Kind hat die Medizin im Heißhunger einfach weggesaugt. „So etwas passiert“, sagt Vichas. „Mitten in Europa.“

Ein anderes Mal kam eine Mutter mit ihrem sieben Jahre alten Kind. Es war schwer krank. Die Behandlung kostet 700 Euro im Monat. Weder die Mutter noch die Klinik hatten so viel Geld. Dann haben sie im Internet für Spenden aufgerufen. In fünf Tagen kam das Geld zusammen, die Medikamente für ein Jahr waren gesichert.

Einfach nur Geld für seine Klinik nimmt Vichas nicht an. Nur Sachspenden, damit nicht der Vorwurf der Korruption kommt. Damit niemand sagen könne, Vichas mache das nur, um sein Gehalt aufzubessern. Mittlerweile verdiene er im staatlichen Krankenhaus 1000 Euro als Kardiologe. Vor der Krise sei es doppelt so viel im Monat gewesen. Er muss sich gerade entscheiden, ob er bald seinen Steuerberater abbestellt oder die Nachhilfe für sein Kind. Beides kann Vichas sich nicht mehr leisten.

Genau wegen der Spenden ist Vichas in Hamburg. Eingeladen hat ihn der Förder- und Freundeskreis Elleniko. Kalliopi Brandstäter hat früher selbst in einer Arztpraxis gearbeitet. Mittlerweile leitet sie ihr eigenes Restaurant in Hamburg. Kalliopea, mediterrane Küche. Seit 40 Jahren lebt die gebürtige Griechin in Deutschland. Als sie mit ihrem Lokal im April Jubiläum feierte, wollte sie die Erlöse spenden – und fand über eine Freundin zu Vichas’ Klinik. Mehr als 3000 Euro sammelte sie auf der Feier im Kalliopae, sie reiste mit dem Geld nach Athen und kaufte Babynahrung und Medikamente für das Krankenhaus ein. Bald schickt der Freundeskreis sogar ein Echokardiogramm nach Griechenland, mit dem Ärzte Ultraschallaufnahmen vom Herz der Patienten machen können. So etwas fehlt in der Klinik noch.

Auch wenn Kalliopi Brandstäter nur für Besuche in ihrer Heimat war, hat sie erlebt, wie sich die Griechen verändert haben. „Nach dem EU-Beitritt gaben die Banken großzügig Kredite. Die Menschen kauften sich Autos, fuhren in den Urlaub. Alles auf Pump“, sagt sie. Das Geld habe die Griechen verändert. Aus bescheidenen Menschen wurden Menschen, die vor allem Wert auf Luxus legten. Idiotes. Jetzt aber sind die Schulden hoch. Und der Luxus verschwindet aus dem Leben der Griechen.

Vichas sagt: „Es gibt eine neue Solidarität.“ Mittlerweile hilft nicht nur in Athen eine Klinik Patienten, die ihre Tabletten nicht zahlen können. Auch in anderen Städten entstanden Projekte. In den ersten Monaten der Krise standen die Griechen viel auf den Straßen. Sie protestierten, sie streikten, sie beschwerten sich. Vermummte steckten Banken in Brand. Das sowieso geringe Vertrauen in den Staat war geschmolzen durch die Wut. Gegen die eigene Regierung, gegen die EU-Regierung. Ein Sparpaket folgte dem nächsten.

In Thessaloniki haben die Bürger ein Kollektiv gegründet. Sie wollen die Wasserwerke kaufen – bevor es ein privater Investor tut. „136“ heißt die Gemeinschaft aus Bürgern. Weil jeder Einwohner der Stadt 136 Euro zahlen müsste für den Kauf der Werke.

Als die Redakteure einer großen Tageszeitung keinen Lohn mehr erhielten, traten sie in den Streik. Dann erschien die letzte Ausgabe. Die Zeitung war vom Markt. Mittlerweile können die Athener sie wieder lesen, einmal in der Woche. In Selbstverwaltung bauten die Angestellten die Zeitung wieder auf. Auf der Halbinsel Chalkidiki protestieren Umweltschützer gegen eine kanadische Firma, die dort Gold abbauen will. Bewusstsein für Umwelt war bisher kaum verbreitet in Griechenland. Giorgos Vichas sagt, dass die Leute merken, wie das alte System nach und nach zusammenbricht. Nun entstehe etwas Neues. Ein Sinn für Gemeinwohl.

Doch auch Vichas prangert an. Er geht mit seiner Klinik an die Öffentlichkeit. Griechische Medien berichteten genauso wie große deutsche Magazine. Über ihn – und damit auch immer über den Notstand. Vichas will dem griechischen Staat zeigen, dass sie den Menschen nicht in Stich lassen können. Im November plant Vichas eine Fahrt nach Straßburg. Gemeinsam mit Angehörigen von verstorbenen Patienten will er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte demonstrieren. „Schaut her, wie kann es sein, dass ein Staat seine Bürger nicht mehr versorgt!“ Das soll seine Botschaft sein. „Wie kann es sein, dass Menschen sich entscheiden müssen, ob sie ihren Strom zahlen oder die Tabletten für das kranke Herz“, sagt Vichas.

Der Sozialklinik im Athener Stadtteil Elleniko haben sie ein Motto gegeben, die Mitarbeiter am Empfang, im Lager und in der Apotheke tragen sie es auf ihren T-Shirts. „In der Krise ist kein Mensch allein“, steht dort.