EU-Kommissionschef verspricht Italien 30 Millionen Euro zur Bewältigung des Flüchtlingsstroms. Überwachungssystem Eurosur könnte helfen

Lampedusa. Begleitet von Protesten haben die EU-Kommission und Italiens Regierungschef Enrico Letta auf Lampedusa eine offenere Haltung Europas in der Flüchtlingspolitik gefordert. „Der Notstand Lampedusas ist ein europäischer, Europa kann sich da nicht abwenden“, verlangte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Mittwoch. Beim jüngsten Flüchtlingsdrama vor der italienischen Mittelmeerinsel waren in der vergangenen Woche Hunderte Menschen ums Leben gekommen.

Europas Politik der geschlossenen Türen habe ihre Grenzen erreicht, erklärte die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström: „Wir müssen hin zu Offenheit und Solidarität, zu geteilter Verantwortung und zu einer wirklich europäischen Antwort.“ Frankreichs Präsident François Hollande kündigte Vorschläge für eine Reform der europäischen Flüchtlingspolitik an. Die Innenminister der EU-Staaten hatten sich am Dienstag zu keiner umfassenden Änderung durchringen können – nun soll das Thema beim nächsten Treffen der Regierungschefs Ende Oktober auf die Agenda.

José Manuel Barroso und Enrico Letta wurden auf Lampedusa, das seit Langem auf politische Lösungen des Migrantenansturms wartet, von Einheimischen mit Buh-Rufen empfangen. Viele Menschen riefen „Schande“ und „Mörder“. Fischerboote ließen aus Protest Sirenen ertönen. Dutzende Insulaner forderten, die Politiker sollten das überfüllte Aufnahmezentrum der Insel besuchen, um sich ein Bild von der prekären Lage der Migranten zu machen. Dort teilen sich derzeit rund 800 Menschen 250 Plätze. Die beiden Politiker folgten der Forderung dann auch – sie nahmen einen kurzen Besuch noch in ihr Programm auf.

Regierungschef Letta nannte die Katastrophe von Lampedusa ein „europäisches Drama“. Rom werde das Flüchtlingsproblem zum zentralen Anliegen machen und die EU um Hilfe bitten. Die Frage soll auf dem EU-Gipfel Ende Oktober behandelt werden.

Am Mittwoch ist die Zahl der geborgenen Opfer der Schiffstragödie vor Lampedusa auf mehr als 300 gestiegen. Am sechsten Tag nach dem Untergang des Flüchtlingsbootes bargen Taucher vier weitere Leichen. Die Bilanz ist noch immer nicht endgültig, es wird weiterhin nach Toten gesucht. Bislang geborgen wurden 210 Männer, 83 Frauen und neun Kinder. Die Mehrzahl der Opfer stammte aus Eritrea. Noch werden Dutzende Menschen vermisst. Ministerpräsident Enrico Letta kündigte an, dass es für die Opfer der Katastrophe ein Staatsbegräbnis geben wird. 155 Flüchtlinge waren nach dem Schiffbruch gerettet worden, insgesamt 545 waren nach den Angaben von Überlebenden an Bord des Bootes.

Der Regierungschef kniete vor den rund 200 aufgebahrten Toten in einem Hangar am Flughafen schweigend zu einer Gedenkminute nieder, bevor er mit Barroso und Malmström Blumen auf einige der Särge legte. „Ich werde das Bild von Hunderten Särgen niemals aus dem Kopf bekommen“, sagte Barroso nach dem Besuch. „Särge von Babys, ein Sarg einer Mutter mit ihrem neugeborenen Kind – das hat mich sehr schockiert und traurig gemacht.“ Er erklärte über Twitter, er sei auf Lampedusa, „um die Opfer zu würdigen und mit konkreten Aktionen Solidarität zu zeigen“.

Italien entschuldige sich dafür, nur unzulänglich auf eine solche Tragödie vorbereitet gewesen zu sein, sagte Letta. Man werde über den Straftatbestand der illegalen Einwanderung diskutieren. Illegale Einwanderer werden in Italien im Regelfall sofort abgeschoben.

Barroso versprach weitere 30 Millionen Euro aus Brüssel, um Italien dabei zu unterstützen, den derzeitigen Flüchtlingsansturm zu bewältigen. Vor allem soll das Aufnahmezentrum auf der Insel besser ausgestattet werden. Rom will 190 Millionen Euro ausgeben, um den Flüchtlingsstrom zu meistern. Italien fühlt sich von seinen europäischen Partnern mit dem Problem alleingelassen. Scharfe Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik kam erneut von Hilfsorganisationen. Pro Asyl warf Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und seinen EU-Amtskollegen in einem Interview des Bayerischen Rundfunks „völliges Versagen“ vor: „Das Sterben auf dem Meer wird weitergehen“, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt. Die Flüchtlingsorganisation Gemeinsam für Afrika kritisierte eine europäische Abschottungsstrategie und sprach von einer „menschenverachtenden Praxis unterlassener Seenothilfe“.

Für eine umstrittene Kampagne gegen illegale Einwanderung erhielt das britische Innenministerium eine Rüge der Werbeaufsicht. Das Ministerium hatte dabei Plakate genutzt, auf denen sie Einwanderer ohne Aufenthaltsrecht aufforderte: „Geh nach Hause!“ Die Werbeaufsicht kritisierte, das Ministerium habe dabei mit irreführenden Zahlen hantiert – als Beleidigung oder verstörend stufte sie die Aktion allerdings nicht ein.

Am Donnerstag wird das Europaparlament in erster Lesung über das geplante grenzüberschreitende Überwachungssystem Eurosur abstimmen, mit dem die EU neue Flüchtlingsdramen im Mittelmeer verhindern will. Mit dem System Eurosur sollen Schlepperbanden grenzüberschreitend bekämpft und die Rettung von schiffbrüchigen Migranten verbessert werden.

Eurosur soll schnelle Informationen über Flüchtlingsboote liefern

Die für die Grenzüberwachung zuständigen Behörden sollen schneller Informationen etwa über den Standort von Flüchtlingsbooten austauschen können. Geplant sind auch nationale Koordinierungszentren, die eng mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex zusammenarbeiten sollen. Das Europaparlament entscheidet in dieser Frage gemeinsam mit dem Rat, in dem die 28 EU-Staaten vertreten sind. Unterdessen wurden in Griechenland von Polizei und Küstenwache 79 Migranten aufgegriffen.