Ende des Jahres läuft Irlands Hilfsprogramm aus. Es gibt Zeichen der Erholung. Für die Menschen ist die Krise aber nicht vorbei.

Dublin. Cathleen O’Neill steht vor der Zentralbank in Dublin und hält ein Pappschild in die Kameras der Lokalfotografen. „1953 – Schuldengerechtigkeit für Deutschland“ steht darauf. Hinter der 64-Jährigen ist ein Tischchen aufgebaut, auf dem eine dreistöckige Papiertorte steht, als Geschenk an die Bundesrepublik Deutschland. Anlass: der 60. Jahrestag des Londoner Schuldenabkommens. Rund 50 Prozent seiner Verpflichtungen bekamen die Deutschen damals erlassen. Auch Irland soll seine Schulden erlassen bekommen, fordern die Demonstranten an diesem kalten Februartag.

Cathleen und ihre Begleiter haben sich Melonenhüte aufgesetzt. Sie ertragen Irlands Verharren in der Krise mit angelsächsischem Humor, aber sie machen keinen Spaß. „Was hier abläuft, das ist ökonomische Euthanasie“, sagt die Sozialarbeiterin. Wut klingt durch jedes Wort. „Alle meine Projekte werden gekürzt. Das ganze Geld geht nur in die Schuldentilgung.“ Schulden, für die Irlands Bürger ihrer Meinung nach keine Verantwortung tragen, sondern gewissenlose Banker und Regierungsvertreter. Bis 2030, so haben Cathleen und ihre Mitstreiter ausgerechnet, gehen 30 Prozent des irischen Wirtschaftsprodukts in die Abbezahlung.

Noch zehn Monate, dann läuft das 68 Milliarden Euro schwere Hilfsprogramm aus, das die Troika für die Iren in den chaotischen Krisenmonaten 2010 geschnürt hat. Der Topf ist bereits fast leer, elf Milliarden Euro stehen noch für die Auszahlung bereit. Dann soll laut Plan eigentlich Schluss sein, Dublin sich ab 2014 wieder selbst Geld besorgen und an die Kapitalmärkte zurückkehren. Es wäre das erste der Euro-Sorgenkinder, das diesen Schritt schafft. Portugal liegt noch ein ganzes Stück zurück, Griechenland braucht an ein solches Szenario gar nicht zu denken.

Für Angela Merkel ist Irland der Musterschüler, kein Euro-Kommentar der Bundeskanzlerin bleibt ohne Verweis auf Dublin. Die CDU-Chefin braucht den Erfolg der grünen Insel, wird ihr doch in vielen EU-Staaten wie von der Opposition vorgeworfen, alles durch ihren gnadenlosen Sparkurs nur noch schlimmer gemacht zu haben. „Irland ist ein herausragendes Beispiel, dass Europa stärker aus der Krise herauskommen wird als es in sie hineingegangen ist“, schwärmte die Regierungschefin beim jüngsten Besuch ihres Amtskollegen Enda Kenny in Berlin.

Tatsächlich sehen Kenny und sein Kabinett endlich etwas Licht. Anfang vergangener Woche präsentierte das staatliche Statistikamt Zahlen, dass die Arbeitslosenquote erstmals seit 2008 zurückgegangen ist. 6500 neue Job, ein Tropfen auf den heißen Stein bei einer Quote von immer noch fast 15 Prozent, aber immerhin. Der Internationale Währungsfonds sagt ein Wachstum von 1,1 Prozent voraus, die Exportwirtschaft meldet einen positiven Trend, die Lohnkosten sind wieder auf dem Stand von 2005. Und die Renditen für Dublins Anleihen sind von 15 auf weniger als fünf Prozent gefallen.

Aber genauso wie Merkel Irland als Leuchtturm braucht, hat die deutsche Begeisterung auch ihre Grenzen. Das bekam Michael Noonan erst am vergangenen Montag zu spüren. Irlands Finanzminister gewann zwar die Amtskollegen in Brüssel dafür, eine Verlängerung der Rückzahlungsfrist von 12,5 auf 15 Jahre prüfen zu lassen. Das bedeutet jedoch nicht viel. Denn in Berlin ist man strikt gegen mehr Zeit, dir mehr Geld und vor allem den Gang in den Bundestag bedeuten könnte. Den aber will Merkel für den Moment partout vermeiden, denn ihre Partei ist am Beginn eines langen Wahlkampfs, und die Kanzlerin kann keine neue scharfe Euro-Debatte brauchen – und wenn es den Iren noch so sehr helfen würde.

Genauso wenig will sie sich auf irische Begehrlichkeiten in Sachen ESM einlassen. Noonan steht das Wasser bis zum Hals, allein die Bankenrettung kostete Dublin 64 Milliarden Euro. Dafür will der Finanzminister nachträglich Hilfen aus dem Rettungsfonds. „Die Vereinbarung beim Europäischen Rat im Juni 2012 war eine Zusage, dass der ESM auch rückwirkend zum Einsatz kommt“, bekräftigt er im Gespräch. Das sei nur gerecht, da Irland seine Banken aus eigener Kraft gerettet habe, „weil damals andere Politikinstrumente noch nicht zur Verfügung standen“. Wie etwa für die Spanier, die von der Eurozone für ihre Finanzhäuser im Notfall 100 Milliarden Euro zugesagt bekamen.

Doch auch in Sachen ESM versteht die Kanzlerin die vermeintliche Juni-Zusage nach wie vor anders. Merkel wird sich nicht verpflichten, dass der Fonds etwa für Altschulden wie die der Bank of Ireland einspringt. In der Euro-Krise, das bekommt man auch im hohen Nordwesten der Währungsunion zu spüren, hängt alles mit allem zusammen.

Es sind darum nicht nur selbst verschuldete Gründe, warum das Land in einer Art Lähmung verharrt. Bartek Kuzminski kennt dieses Gefühl zu gut. Der 32-jährige Pole lebt seit zehn Jahren in Dublin, er hat die Boomzeiten erlebt und dann den steilen Absturz, als nach 2008 Immobilien- und Staatsfinanzkrise kollidierten. Jetzt verkauft er Hemden und Anzüge im CHQ-Einkaufszentrum, einer historischen Lagerhalle im Finanzdistrikt am Fluss Liffey. Für 50 Millionen schick saniert, steht es fast leer und zum Verkauf, zehn Millionen bekommen die Anbieter vielleicht als Preis. „Ohne eine konkrete Perspektive gehe ich nicht nach Polen zurück“, sagt er mit Blick auf die Entscheidung vieler seiner Landsleute. „Aber hier bewegt sich auch nichts. Alles wirkt wie erstarrt, wie eingefroren.“ Dann deutet Bartek auf die Straßenbahnhaltestelle am Ausgang. „Die Typen, die hier vor ein paar Jahren den Bahnsteig gebaut haben, bekamen angeblich 80.000 Euro Jahresgehalt. Schon da war mir klar: Hier stimmt irgendwas nicht.“

Das sah man in Brüssel lange vor der Krise. Schon 2007, schreibt der heutige ESM-Chef Klaus Regling, habe die EU-Kommission auf die schwachen Steuereinnahmen hingewiesen, 2001 gar bereits auf das Risiko pro-zyklischer Finanzpolitik. „Damals machte Irlands Finanzminister lockere Sprüche wie diesen: ,Wenn ich Geld habe, dann gebe ich es auch aus’“, erinnert sich ein EU-Beamter. Dabei war die Struktur der irischen Wirtschaft alles andere als belastbar. 25 Prozent des Bruttosozialprodukts kamen aus dem Bausektor, der mit Abstand die meisten Jobs und EU-weit höchsten Löhne bot. Nach Luxemburg hat Irland den zweithöchsten Mindestlohn, die Gehälter stiegen im Durchschnitt um 15 Prozent. Aufsicht und Risikomanagement der Banken hinkten der ökonomischen Realität mit ihrem Kreditboom jedoch völlig hinterher.

Vor allem aber: Die staatlichen Ausgaben stiegen noch viel schneller an als die ständig nach oben zeigende Wachstumskurve. Für diese strukturelle Verantwortungslosigkeit zahlen jetzt die Bürger. 15 Milliarden Euro hat Kennys Regierung bereits eingespart. Von 320.000 Angestellten im öffentlichen Dienst mussten 30.000 gehen. Die Pensionen der Beamten, die mehr als 100.000 Euro pro Jahr bekamen, wurden um 20 Prozent reduziert, Lohn für Überstunden generell um zehn Prozent gekürzt. Fast 370.000 Vollzeitjobs in dem 4,5-Millionen-Einwohnerland gingen verloren.

Aber die radikalen Anpassungen haben ihren Preis. Der Binnenkonsum ist um 25 Prozent eingebrochen, während die Sparquote weiter steigt. „Die Leute wollen keine Kredite mehr, sie haben Angst“, sagt Ian Talbot von der Irischen Handelskammer. „Beispiel Autos: Im Jahr 2000 verkauften die Händler 105.000 Fahrzeuge – jetzt sind es noch 25.000.“ Trotzdem gehen die Iren im Gegensatz zu anderen Leidtragenden in Spanien, Portugal und Griechenland nicht auf die Straße, Massenproteste gab es nur wenige. „Wir haben eine ziemlich gute Ahnung, dass wir uns das alles selbst eingebrockt haben“, meint Talbot.

Die Gewerkschaften halten diese angebliche Grundüberzeugung für falsch. „Die Briten mit ihrem Empire haben uns wenigstens eine schöne Architektur hinterlassen. Die Troika hinterlässt nur Ruinen“, donnert David Begg, Generalsekretär des irischen Gewerkschaftskongresses. „Der Sparkurs funktioniert nicht, das sieht man überall in Europa. Die akute Phase der Krise ist zu einer chronischen Phase geworden.“ 60 Prozent der Arbeitslosen blieben länger als ein Jahr ohne neuen Job, die Privatverschuldung sei durchschnittlich auf das 210-fache des Jahreseinkommens gestiegen – wenn man denn noch eines hat. „Vor ein paar Tagen ist meine Nichte nach Australien ausgewandert. ,Unser Herz ist gebrochen’, sagen mir ihre Eltern. So vielen Familien wird das Herz gebrochen.“ Großeltern, die zurückbleiben, Geschwistern, Kindern. Denn niemand gehe nur für ein paar Monate weg, und viele für immer. „Irland ist ein gebrochenes Land.“

Auch der IWF warnt, dass die irische Erholung fragil sei. „Europa muss seine Zusagen einhalten, damit das Hilfsprogramm nachhaltig wirkt“, sagt IWF-Mann Peter Breuer. Wie Finanzminister Noonan will auch er, dass der ESM für die Altlasten der Banken einspringt. „Das würde die Abhängigkeit zwischen Banken und Staatsfinanzen lösen und Irlands Schulden reduzieren. Das wiederum stärkt den Marktzugang, falls es zu neuen externen Stresssituationen kommt.“ Genau vor diesem Risiko warnen auch andere internationale Experten in Dublin: „Die größte Angst ist, dass andere Mitgliedstaaten wieder voll in die Krise rutschen und Irland mit sich reißen“, sagt ein EU-Vertreter.

Auf die Frage, ob Irland noch mehr Geld braucht, bekommt man von Dublins Offiziellen dieser Tage keine Antwort. In jedem Fall, davon sind Brüssel Abgesandte überzeugt, wird das Land Ende des Jahres alle Verpflichtungen erfüllt haben. „Noch einmal die Troika zu rufen, das schaffen sie nicht. Das Trauma ist zu groß, die Angst um den Verlust der Souveränität reicht so tief, bis in die Zeit der britischen Besatzung“, meint ein EU-Beamter. Die Sehnsucht nach Selbstbestimmung habe alle Kämpfe der vergangenen 200 Jahre geprägt, schrieb schon bei Ankunft der Troika im November 2010 der Kommentator der „Irish Times“. „Die wahre Schande ist nicht, dass uns unsere Souveränität genommen wurde. Sondern dass wir sie selbst verschleudert haben.“