Ministerpräsident droht mit Rücktritt. Präsidentenpartei verlässt Regierung. Islamisten protestieren für führende Regierungspartei Ennahda.

Tunis. Zwei Jahre nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings gleitet Tunesien immer tiefer in die Staatskrise ab. Ministerpräsident Hamadi Jebali drohte am Wochenende mit seinem Rücktritt. Zudem zog sich die weltlich orientierte Koalitionspartei von Präsident Moncef Marzouki aus der islamistisch dominierten Regierung zurück. Zuvor hatten Massendemonstrationen nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid gezeigt, wie tief die Gräben zwischen der tiefreligiösen und säkularen Bevölkerung sind.

Das erste politische Attentat seit Jahrzehnten hat das nordafrikanische Land in Aufruhr versetzt. Regierungschef Jebali kündigte daher vor einigen Tagen die Auflösung der Regierung sowie Neuwahlen an. Nun sagte er dem französischen Fernsehsender France 24, er werde seinen Posten räumen, sollten die Koalitionsparteien seinen Vorschlag ablehnen, eine unabhängige Expertenregierung zu bilden. Diese sei nötig, um das Land vor dem Chaos zu retten. Der staatlichen Nachrichtenagentur TAP zufolge wird der gemäßigte Islamist seine neue Regierung in den kommenden Tagen vorstellen. Jebalis Pläne waren nicht nur in dessen eigener Ennahda-Partei auf Widerstand gestoßen, sondern wurden auch von den beiden kleineren, nicht-islamistischen Koalitionspartnern kritisiert, weil das Vorhaben mit ihnen nicht abgesprochen sei.

Präsident Marzoukis Partei Kongress für die Republik berief unterdessen ihre drei Minister aus dem Kabinett ab. Sie betonte allerdings, der Schritt habe mit Jebalis Plänen zur Bildung einer Expertenregierung nichts zu tun. Grund sei vielmehr, dass Forderungen der Kongresspartei nach einem Austausch des Außen- und des Justizministers nicht erfüllt worden seien.

Am Sonnabend zogen rund 6000 Ennahda-Anhänger in der Hauptstadt Tunis auf die Straßen, um ihre Solidarität mit der Regierungspartei zu demonstrieren. Sie reagierten damit auf einen Trauermarsch für Belaid, an dem Zehntausende am Freitag teilgenommen hatten. Ennahda wird von Oppositionellen für den Anschlag auf den Belaid verantwortlich gemacht wird, ebenso wie von Belaids Familie. Die islamistische Partei weist die Vorwürfe zurück. Bellaids Witwe forderte inzwischen Polizeischutz für ihre Familie.

In die tunesischen Unruhen wird verstärkt auch die frühere Kolonialmacht Frankreich hineingezogen. Die französischen Schulen in Tunis blieben am Freitag und Samstag geschlossen. Landsleute wurden aufgefordert, bestimmte Gegenden zu meiden. Beim Protestzug der Islamisten wurden auch „Frankreich raus“-Rufe laut. Zuvor hatte der französische Innenminister Manuel Valls vor einem „islamischen Faschismus“ gewarnt, der an vielen Stellen auf dem Vormarsch sei. Tunesiens Außenminister Rafik Abdessalem kritisierte diese Äußerungen als „besorgniserregend und unfreundlich“.

Nach dem Sturz des Machthabers Zine al-Abidine Ben Ali im Januar 2011 ist der politische Übergang in Tunesien bislang wesentlich friedlicher verlaufen als etwa in Libyen oder Ägypten. Doch nach dem Mord an Bellaid werden Forderungen nach einer „neuen Revolution“ laut. Die Auseinandersetzungen zwischen den herrschenden Islamisten und der säkularen Opposition schlugen teils in Gewalt um. Viele Menschen sind zudem enttäuscht über ausbleibende soziale und wirtschaftliche Fortschritte.