Neue Eskalation der Gewalt fordert bereits mehr als 15 Todesopfer. Regierung in Jerusalem bereitet Einmarsch in den Gazastreifen vor

Tel Aviv. Der Trauerzug mit Ahmad Dschabaris Leiche hatte seinen Marsch zur letzten Ruhestätte des am Mittwoch getöteten Hamas-Führers noch nicht begonnen, da gab es schon einen Nachfolger: Marwan Issa wird den militärischen Flügel der Hamas fortan führen, hieß es. Bei der Beerdigung seines bei einem Luftangriff ums Leben gekommenen Vorgängers soll der neue starke Mann der Issedine-al-Kassam-Brigaden gefehlt haben. Wahrscheinlich fürchtete er einen weiteren Angriff der Israelis. Auch andere hochrangige Führer der Islamistenorganisation waren wie vom Erdboden verschluckt. Die israelische Armee hat Flugblätter über dem Gazastreifen abgeworfen. Auf Arabisch steht darauf: "Zu Ihrer eigenen Sicherheit seien Sie verantwortungsvoll und vermeiden Sie es, sich in der Gegenwart von Aktivisten und Einrichtungen der Hamas und anderer Terrororganisationen aufzuhalten, die ein Risiko für Ihre Sicherheit darstellen könnten!"

Hamad G. hatte die Warnung der Israelis nicht nötig. "Niemand, der recht bei Verstand ist, geht heute überhaupt vor die Tür", sagt er am Telefon. Hamad wohnt mitten in Gaza-Stadt. Als am Mittwoch gegen 16 Uhr der Kia-Kleinwagen Dschabaris von einer israelischen Rakete getroffen wurde, hörte er den ohrenbetäubenden Knall und wusste: "Es geht wieder los!" Seitdem hat er Angst. "Alle haben Angst", sagt er. Vor allem fürchte man, dass es noch schlimmer werde, dass wieder alles in Schutt und Asche gelegt werde wie im letzten Krieg und dass viel zu viele Menschen sterben müssen.

Innerhalb von nur 24 Stunden hat die israelische Luftwaffe mehr als 200 Ziele in Gaza angegriffen. Dabei wurden mindestens 13 Palästinenser getötet, eine schwangere Frau, ein alter Mann und zwei kleine Kinder waren darunter. "Haben die Israelis denn die Bilder von dem toten Säugling nicht gesehen?", fragt Hamad verzweifelt. Nein, die Bilder von Omar Dschihad al-Mascharawi haben die Israelis nicht gesehen. Nur elf Monate alt wurde der Sohn eines in Gaza arbeitenden Journalisten. Israels Fernsehprogramme senden Bilder eines verletzten israelischen Säuglings auf dem Arm eines Helfers.

Rund 200 Raketen haben militante palästinensische Guppen nach der Tötung Dschabaris auf Israel abgefeuert. Fast im Minutentakt schrillen dort die Alarmsirenen, den Bewohnern bleiben meist nur wenige Sekunden, sich in Sicherheit zu bringen. Schulen und Kindergärten sind geschlossen, Theater und Konzertsäle öffnen nicht. Laut Militärverordnung dürfen keine Veranstaltungen mit über 100 Teilnehmern mehr stattfinden. Die meisten der Geschosse richten keinen großen Schaden an. Israels Raketenabwehrsystem "Eiserne Kuppel" holt mit angeblich 85-prozentiger Genauigkeit nur jene Geschosse vom Himmel, deren Flugbahn in besiedelten Gebieten enden würde. Bis gestern Abend waren das immerhin 90 Raketen. Dennoch schlägt in den Morgenstunden eine Grad-Rakete auf dem Dach eines Wohnhauses in der Stadt Kiriat Malachi ein. Drei Menschen kommen ums Leben, zwei Säuglinge und ein vierjähriger Junge werden verletzt. Wenig später wird ein Haus in Sderot direkt getroffen, dort kommt niemand zu Schaden. Drei Soldaten werden von einer Rakete in der Nähe der Stadt Aschkelon verletzt, am Abend gibt es Raketenalarm sogar im weit nördlich gelegenen Tel Aviv. Über den Einsatz von Bodentruppen sei noch nicht entschieden, heißt es in Armeekreisen. Möglich sei eine Bodenoffensive aber durchaus. Den ganzen Tag lang kann man auf israelischen Straßen Lastwagen und Zugfahrzeuge beobachten, die Panzerwagen in das Grenzgebiet transportieren. "Wir befinden uns mitten in einem Kampf der nicht leicht ist und vielleicht nicht kurz sein wird", sagt Verteidigungsminister Ehud Barak. Israel werde aber alles tun, um den Bewohnern der beschossenen Ortschaften Ruhe zu verschaffen.

Aus Militärkreisen ist zu hören, die Offensive werde noch Tage dauern. Schon jetzt seien Erfolge zu verzeichnen. So sei es gelungen, einen Großteil der aus dem Iran nach Gaza gelieferten "Fadschr 5"-Raketen zu zerstören. Mit einer Reichweite von 75 Kilometern hätte die Hamas mit ihnen den Großraum Tel Aviv angreifen können.

Die Israelis fürchten, dass die Zeit für die Militäroffensive knapp werden wird. Noch sind die weltweiten Reaktionen sehr zurückhaltend, US-Präsident Barack Obama hat sich recht eindeutig auf Israels Seite geschlagen, und eine Sitzung des Uno-Sicherheitsrats endet ohne einen Beschluss. Auch Außenminister Guido Westerwelle stellt fest, Israel habe "selbstverständlich das Recht, sich selbst zu verteidigen und seine eigene Bevölkerung vor Raketenangriffen aus dem Gazastreifen zu schützen". Harsche Kritik kommt aus der arabischen Welt: Ägypten zog seinen Botschafter aus Tel Aviv ab, in einem Telefongespräch mit Präsident Obama soll Regierungschef Mohammed Mursi einen sofortigen Waffenstillstand gefordert haben. In Kairo demonstrieren Hunderte gegen die israelische Militäraktion. Sie fordern von ihrer Regierung, das Friedensabkommen von Camp David aufzukündigen und skandieren: "Das Volk will Tel Aviv bombardieren."

In Israel herrscht weitgehend Einigkeit über die Notwendigkeit der Offensive. Die Vorsitzende der Arbeitspartei, Shelly Jechimowitsch, hat sogar den Wahlkampf für die Parlamentswahlen am 22. Januar ausgesetzt. In Jerusalem geht man davon aus, dass international schon bald Rufe nach einem sofortigen Waffenstillstand laut werden könnten. Bis dahin will die Armee die Hamas so empfindlich geschwächt haben, dass zumindest für eine Zeit lang im Süden Israels wieder Ruhe einkehrt.