Obwohl es Zweifel am Willen des türkischen Staatschefs gibt, schnell der EU beizutreten, wirbt er in Berlin für rasche Verhandlungen.

Berlin. Es hat den Charakter eines Rituals angenommen. Immer wenn es zu einem der gar nicht mehr so seltenen Besuche türkischer Spitzenpolitiker in Deutschland oder ihrer deutschen Kollegen in der Türkei kommt, bringt man sich gegenseitig mit dem Thema EU-Beitritt in die Bredouille. Immer geht es dann auch darum, wer am Ende besser dasteht, ob die deutsche Seite ihre Vorbehalte gegen einen Beitritt des Landes als wohlbegründet darstellen kann oder ob die Türken ihren Willen nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern als Herzensanliegen verkaufen können. Diesmal geht der Punktsieg an die Türken.

Ihr Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte bei seinem zweitägigen Berlin-Besuch gleich drei Gelegenheiten, sich als überzeugten Europäer vorzustellen. Einmal am Dienstag bei der Einweihung der neuen türkischen Botschaft am Berliner Tiergarten, die der Anlass seines Deutschland-Besuchs war. Eine zweite Gelegenheit bot sich danach bei der "Townhall-Konferenz" des Nicolas Berggruen Institutes of Governance im Allianz-Forum am Brandenburger Tor und eine dritte im Gespräch mit der Kanzlerin gestern. Erdogan hat alle drei Gelegenheiten genutzt, für sein Land als Teil Europas zu werben. Die deutsche Seite ließ er dabei manchmal leicht bedröppelt aussehen.

Zur Einweihung der Botschaft kam Erdogan auf die Deutschkenntnisse der hier lebenden Türken und türkischstämmigen Menschen zu sprechen. Da wurden Erinnerungen wach an seinen Auftritt vor vier Jahren in Köln, als er die Assimilation seiner Landsleute als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geißelte. Ganz anders klang dies in Berlin. "Wir wollen, dass die Türken in Deutschland fließend Deutsch sprechen", sagte Erdogan. "In diesem Sinne müssen sie Doppelsprachler sein und sich mehr und mehr am Leben beteiligen." Nicht nur türkische Autoren sollten sie kennen, sondern auch Hegel, Kant und Goethe verstehen. Hier brach Erdogan gewissermaßen mit seiner früheren Assimilationsthese. Denn wer die Aufklärer Kant und den Idealisten Hegel "verstehen" will, der muss sich mit weit mehr als der Sprache, in der sie schrieben, auseinandersetzen. Zur Teilhabe an der deutschen Gesellschaft gehört für Erdogan die doppelte Staatsbürgerschaft. "Wir wünschen uns, dass die drei Millionen Türken eine doppelte Staatsbürgerschaft bekommen", sagte er im Beisein der Kanzlerin und gab sich großmütig. In dieser vor allem für die CDU-Kanzlerin politisch brisanten Forderung ist sich Erdogan einig mit seinen größten Kritikern, die parallel zu seinem Besuch am Platz des 18. März hinter dem Brandenburger Tor protestieren. Vor allem Vertreter der Glaubensrichtung der Aleviten sind hier zusammengekommen, um Erdogan auf Plakaten unter anderem einen "Diktator" und einen Feind der Kurden - viele Kurden sind Aleviten - zu schimpfen. Viele Aleviten in der Türkei, die 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, leiden unter Diskriminierung. Tatsächlich fürchtet Erdogan wenig so sehr wie einen kurdischen Staat. Berichte über den Hungerstreik von rund 750 Gefängnisinsassen wies er zurück. Im Hungerstreik befinde sich nur eine Person, das sei alles "eine Show".

Angela Merkel konnte der Version ihres Gastes schlecht widersprechen. Vielmehr musste sie ihm auch noch ein Zugeständnis machen. Er beklagte, dass die EU und Deutschland zu wenig gegen Vertreter der Kurdischen Arbeiterpartei PKK täten. "Es darf keine separatistischen Terrororganisationen geben in der EU", sagte er. Merkel verständnisvoll: "Wir sind hilfreich, wo es um terroristische Aktivitäten der PKK geht."

Hilfreich und vor allem ehrlich wollten Deutschland und die EU auch die Verhandlungen für einen EU-Beitritt mit der Türkei führen. "Die EU ist ein ehrlicher Verhandlungspartner", sagte sie im Hinblick auf die Beitrittsverhandlungen. "Deutschland steht zu diesem Prozess." Erdogan hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur als nützlicher, sondern als notwendiger Partner der EU und Deutschlands dargestellt. "Für die Diplomatie in der ganzen Welt wird es wichtig sein, dass wir noch enger zusammenkommen", sagte er. Nicht als Vertreter einer lokalen Macht ist er angereist, sondern als mit einem weit über den Nahen Osten hinausgehenden Anspruch. In Deutschland sieht Erdogan den wichtigsten europäischen Staat. Erdogan tritt dabei nicht als Bittsteller auf, sondern als selbstbewusster Akteur, ohne den man nicht vorankomme. Wenn die EU die Türkei heraushalten wolle, weil die Türkei ein islamischer Staat ist, "wird die EU verlieren. Wir nicht. Wir erstarken von Tag zu Tag", sagte Erdogan. Er nannte das Jahr 2023 als spätesten Beitrittstermin. Aber: "Ich glaube, die Menschen wollen nicht so lange warten." Viele Experten hegen allerdings ernste Zweifel, ob es ihm selbst nicht ganz recht ist, mindestens so lange zu warten. Gleichzeitig wächst die wirtschaftliche Bedeutung des Landes als Handelspartner. Angela Merkel sprach sogar davon, dass man sich eine solche Dynamik auch für die Euro-Zone wünschen würde. Dieser Euro-Zone will Erdogan großzügig helfen. "Die Türkei ist keine Last für Europa. Die Türkei will Lasten übernehmen." Sein Land habe fast alle Schulden an den Internationalen Währungsfonds zurückgezahlt, "und heute können wir der EU ein Darlehen geben".

Mit dem Syrien-Konflikt, in den sich Ankara auch militärisch einschaltet, wächst auch die strategische Bedeutung der Türkei noch einmal. Auch hier tritt Erdogan selbstbewusst auf, fordert von den Vereinten Nationen, über die Einrichtung einer Flugverbotszone zu diskutieren. Erdogan gelingt es in Berlin, an das schlechte Gewissen der Deutschen und Europäer zu appellieren, ja, das Heraushalten seines Landes aus der EU geradezu als unverständlich darzustellen. Angela Merkels Antwort auf die Journalisten-Frage, ob ihre Worte von der großen Bedeutung der Türkei und dem Nein zu einem Beitritt nicht einen Widerspruch darstellen, dürfte auf Dauer weder Türken noch viele Europäer überzeugen. "Bevor ich Bundeskanzlerin wurde, war die Haltung meiner Partei schon dieselbe wie heute." In der Frage der Vollmitgliedschaft stimmten sie und Erdogan eben nicht überein. "Damit haben wir gelernt zu leben." Ende Februar 2013 reist Merkel zum Gegenbesuch in die Türkei.