Peking blockiert im Internet Berichte über die Familie des Ministerpräsidenten Wen Jiabao und spricht von einer Schmutzkampagne.

Peking. In ein Hornissennest zu greifen war nichts gegen das, worauf sich die "New York Times" (NYT) jetzt einließ. Am Freitag enthüllte sie auf ihrer englisch- und seit Juli auch chinesischsprachigen Webseite, dass die Familie von Premier Wen Jiabao Firmen- und Vermögensanteile im Umfang von umgerechnet 2,1 Milliarden Euro besitzen soll.

Die Nachricht löste in Chinas Internet den "Perfect Storm" der Zensoren aus. Sie schwärmten virtuell aus, blockierten die Zeitung und alle Nachrichten über die exorbitant reich gewordene Wen-Familie, selbst Nachrichten im BBC-Fernsehen, als es darüber berichtete. Der Sprecher des chinesischen Außenministereriums, Hong Lei, nannte den NYT-Artikel einen Bericht, der Chinas Name "in den Schmutz ziehen soll" und hinter dem "üble Absichten" steckten. Die Zensur des chinesischen Internets fiel sogar noch schärfer aus. Kommentare blieben nur stehen, wenn sie in Anspielungen verfasst wurden. Ein Blogger etwa schrieb statt des chinesischen Worts "Zongli" für Ministerpräsident das altchinesische Wort für Premier aus der Kaiserzeit "Zaixiang". Er kam durch. Sein Eintrag wurde nicht gelöscht.

Zwei Wochen vor Beginn des 18. Parteitags und des Generationenwechsels in der Parteiführung braut sich nach dem Korruptions- und Mordfallkrimi um den Politbürofunktionär Bo Xilai, dem Ferrari-Skandal um ZK-Büroleiter Ling Jihua nun ein neue Krise zusammen - dieses Mal eine Führungsetage höher. Obwohl Premier Wen ausdrücklich kein Vorwurf gemacht wird, sich selbst bereichert zu haben, wird ihm aber indirekt unterstellt, dass seine Familie von seinem Amt in herausgehobener politischer Position profitiert hat - ein erneuter Fall der unheilvollen Symbiose von Politik und Geschäften im Zentrum der chinesischen Macht.

Fast alle in der Wen-Familie sollen, so der Report, exorbitant reich geworden sein. Seine 90 Jahre alte Mutter Yang Zhiyun soll Aktienanteile am Pingan-Versicherungskonzern besitzen, die schon vor fünf Jahren 120 Millionen Dollar und inzwischen ein Vielfaches wert sind. Alle hätten blendende Geschäfte gemacht, von seiner Frau Zhang Beili, die einst Vorsitzende des Juwelenverbandes war, seinem Sohn Winston Wen, seiner Tochter bis hin zu seinem jüngeren Bruder und seinem Schwager. Wens Frau etwa gründete das "Nationale Prüfzentrum für Juwelen" und die "Shanghaier Diamantenbörse".

Sein jüngerer Bruder soll für seine Umwelt- und Abwasserfirma Regierungsaufträge im Millionenwert erhalten haben. Die Beteiligungen der Familienmitglieder und Verwandten sollen sich von Versicherungen, Banken, der Edelsteinbranche, auf Projekte der Telekommunikation, den Tourismus oder Infrastruktur bis zu Bauprojekten für Villen oder für Fabriken erstrecken.

"In einer Reihe von Fällen", so schreibt die NYT, "wurden die Namen der Teilhaber aus der Wen-Familie verschleiert." Die Familienmitglieder und Verwandten seien alle im Zeitraum von 1998 bis heute reich geworden, als Wen zuerst als Vizepremier und dann ab 2003 als Premier sein Amt antrat.

Gegen die "New York Times" dürfte nun ein behördliches Kesseltreiben beginnen, wie es im Juni "Bloomberg News" erlebte. Die Wirtschaftsagentur hatte bei Hongkongs Börsen und nach Recherchen in Firmenregistern herausgefunden, dass Familienangehörige wie Brüder und Schwestern und Verwandte des designierten künftigen Parteichefs Xi Jinping Beteiligungen und Vermögen im Buchwert von 376 Millionen US-Dollar und 18 Prozent Anteile an einem Milliardenkonzern für Seltene Erden besitzen. Bloomberg beschuldigte Xi allerdings nicht, selbst daran zu partizipieren. Die Agentur musste dennoch büßen. Ihre Webseite wurde blockiert, ihre Finanzdienste, die sie teuer an chinesischen Banken und Dienstleister aller Art verkauft, storniert.

Berichte über Chinas Führer und die Finanzverhältnisse ihrer Familien sind "top secret". Als im März 2006 Hongkonger Zeitungen über Geschäfte der Pekinger Firma Nuctech Co. Ltd., berichtete, die plötzlich staatliche Aufträge gewann, 147 Flughäfen Chinas mit Sicherheitsscannern zu beliefern, wurden sie im Internet blockiert. Präsident der Nuctech war Hu Haifeng, Sohn von Parteichef Hu Jintao.

Für den gelernten Geologen Wen, der sich einst gern als Lehrersohn aus einer "armen Familie" bezeichnete, steht sein Ruf als Anwalt der kleinen Leute, als ehrlicher und mitfühlender Krisenmanager auf dem Spiel. Dissidenten in China nannten ihn abschätzig immer nur einen "Showman". Der Schriftsteller Yu Jie schrieb eine Biografie über Wen unter dem Titel "Der Staatsschauspieler".

Als Verteidigerin sprang nun ausgerechnet die antikommunistische Webseite "Boxun" für Wen in die Bresche. Die detaillierte Auflistung an "Nachweisen" über den Reichtum der Familie, lässt sie zweifeln, ob da nicht Leute mit Verbindungen zu Behörden und Aufsichtsgremien nachgeholfen haben, um politisch schmutzige Wäsche zu waschen und potenzielle Reformer wie Xi Jinping und Wen Jiabao bewusst in Misskredit zu bringen.

Der 70 Jahre alte, nur noch wenige Monate bis März 2013 amtierende Premier Wen kann zwar als Auslaufmodell nicht mehr politisch gestürzt werden. Die Gerüchteküche läuft aber heiß, ob es sich um eine Retourkutsche von Anhängern des entmachteten Chongkinger Parteichefs Bo Xilai handelt, den Premier Wen im März zu Fall brachte. In einem offenen Brief an den Volkskongress hatten sich Anfang der Woche 317 bekannte orthodoxe Kommunisten des linken Lagers für Gerechtigkeit für den unfair behandelten Bo Xilai eingesetzt. Bo wurde am Freitag vom Parlamentsausschuss die Immunität vor Strafverfolgung entzogen, die letzte Hürde vor seinem Gerichtsprozess. Die Akte Wen, wenn sie denn stimmt, könnte ein Vorgeschmack sein, was noch alles zutage tritt.