Ana Lilia Pérez schreibt über die kriminellen Kartelle in Mexiko. Jetzt hat sie Zuflucht in Hamburg gefunden - weil sie um ihr Leben bangt.

Hamburg. Acht Journalisten ermordet in den vergangenen acht Monaten. Blogger werden geköpft, Leichen von Reportern verstümmelt. Zu viel, denkt Ana Lilia Pérez. Sie schafft es nicht mehr. Es wird zu gefährlich für sie in Mexiko, wo Tag für Tag zwischen 20 und 70 Menschen ums Leben gebracht werden im Kampf um Macht, Drogen und Geld.

Pérez steht im Treppenhaus in einem Altbau in der Hamburger Sternschanze und holt einen kleinen Schlüssel aus der Tasche. Er klemmt im Schloss, lässt sich nicht richtig drehen. Ana Lilia Pérez hat diese Tür noch nicht oft aufgeschlossen, sie ist erst seit ein paar Stunden in Deutschland. In Sicherheit. In Mexiko, sagt sie, hätte diese Wohnungstür einige Kettenschlösser. Dann dreht sich der Schlüssel und die Tür öffnet sich.

Lilia Pérez recherchiert seit Jahren über Korruption in Regierungskreisen, illegale Geschäfte staatlicher Unternehmen und über die Geldwäsche der Drogenkartelle. Erst schrieb sie für mexikanische Zeitschriften wie "Contralinea", und als die ihre kritischen Artikel nicht mehr drucken wollten, veröffentlichte Pérez ein Buch: "Camisas azules, Manos negras". Blaue Hemden, schwarze Hände. Zehn Jahre ist das her. Die blauen Hemden trugen die Funktionäre der Regierungen unter den Präsidenten Vicente Fox und Felipe Calderón, auch die Manager des Staatskonzerns Pemex gehörten zu den Hemdenträgern - und auch die Drogenmafia. An ihren schwarzen Händen kleben Öl, Blut, Schmiergeld.

+++ Kämpfer im Exil +++

"Es gab Morddrohungen gegen mich", sagt Pérez. Unbekannte hätten bei ihr zu Hause angerufen und gesagt: Wenn du noch länger schreibst, wirst du es bereuen. Pérez erstattete Anzeige, rief sogar die Vereinten Nationen um Hilfe. Vor zwei Jahren bekam sie Personenschutz von einer Menschenrechtsorganisation gestellt, vier Bodyguards patrouillierten vor ihrem Haus in Mexiko-Stadt.

Die Organisation Reporter ohne Grenzen sagt, es gebe momentan kein gefährlicheres Land für Journalisten als Mexiko. Für ein Jahr ist Pérez nun Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. "Ich brauchte Ruhe, ich musste mal abschalten", sagt sie.

Diese Nacht, sagt sie, musste sie zum ersten Mal nicht durch die Fenster schauen, ob jemand Unbekanntes vor dem Haus steht. Sie war ohne Angst vor Drohungen, vor Gewalt, ohne Todesangst. Es war die erste Nacht in ihrer neuen Wohnung in Hamburg. Sie schlief durch. Sie schlief ruhig. Und doch werden die kommenden Tage sehr anstrengend und aufregend für Pérez.

Mexiko wählt am Sonntag einen neuen Staatschef. Pérez ist in Berlin und wird Interviews geben für deutsche TV-Sender. Allen Umfragen zufolge wird die Partei der Nationalen Aktion (PAN) des Amtsinhabers Felipe Calderón die Macht verlieren. Der Kandidat der alten Machtpartei PRI, Enrique Peña Nieto, hat die besten Aussichten, neuer Präsident zu werden. Pérez sagt: Es wird nicht besser werden mit Nieto. Vielleicht schlimmer. "Die Menschen könnten sich gegen Demokratie entscheiden und für die Stabilität eines autoritären Staates - wegen der Gewalt."

Nietos Partei, die PRI, hat schon einmal regiert. Mehr als 70 Jahre lang, von 1929 bis 2000. Und vielleicht verrät der Name am meisten über die Politik: PRI, Partei der Institutionalisierten Revolution. Viele Jahre regierten PRI-Machthaber autoritär, es gab Massaker an Studenten und Oppositionellen, Wahlbetrug. Gut ging es vor allem der Regierung. Und der Mafia. Die PRI habe eine "effektive Machtpyramide aufrechterhalten", schreibt der Leiter des International Law and Economic Development Centre in New York, Edgardo Buscaglia, in der "Süddeutschen Zeitung". Die Regierung habe jedem Kartell Handlungsfreiheit gegeben und im Gegenzug einen Anteil der Gewinne bekommen. In den Provinzen hätten Parteifunktionäre Abkommen mit den Drogenbossen geschlossen. Deren Geschäfte seien still und glatt verlaufen.

"Die perfekte Diktatur" nannte einst Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa das Herrschaftssystem der PRI.

Lange war Mexiko, Lateinamerikas zweitgrößte Volkswirtschaft, für viele Menschen in Europa das Land der weißen Strände, des Tequila, der Mariachi-Bands. Dieses Bild verblasst mit jeder Meldung über den Krieg zwischen Drogenbanden. Anfang Mai: "Kartell richtet 23 Menschen hin", November 2011: "24 Tote im Drogenkrieg". "Drei tote Polizisten bei Schießerei am Flughafen" lautet die jüngste Meldung aus dem Land. Sie ist zwei Tage alt.

+++ Neuer Präsident - alte Politik? +++

Auch Lilia Pérez, 36 Jahre alt, kennt diese Geschichten. Sie sitzt auf dem braunen Ledersessel. Die Stiftung hat die Wohnung hübsch gemacht, gelbe Rosen stehen auf dem Tisch im Wohnzimmer, in der Küche eine Schüssel mit Obst. Pérez' Koffer sind schon da, aber ihr Kopf ist noch nicht angekommen, in diesem Land, in dem sie den Kassierer im Supermarkt nicht versteht und die Zeitungen nicht lesen kann. Pérez selbst ist in Sicherheit, aber die Gefahr für Menschen, die Kontakt zu ihr hatten, ist groß. Über ihre Informanten schweigt sie. Kaum jemandem habe sie überhaupt verraten, dass sie nach Deutschland geht. Auch von ihrer Familie erzählt sie nichts. Pérez flieht in die Gespräche über die Kartelle und Korruption. Sie zieht sich zurück auf den sicheren Boden ihrer Recherche. Ihre Stimme ist leise, die Worte klar.

"Polizisten verkaufen Waffen an die Mafia", sagt sie. Die großen Drogenkartelle hätten längst Einfluss auf den Handel mit Rohstoffen, Benzin, Gold oder Silber, aber auch das Geschäft mit der illegalen Migration in die USA. Auf 143 Milliarden Dollar schätzt Pérez die Gewinne der Kartelle - pro Jahr. Es gebe die wenigen mächtigen Barone, und es gebe die vielen Beamten, die versuchen, sich in diesem System zu bereichern. "Polizisten schnappen dann illegale Einwanderer an der Grenze. Und was machen sie? Sie verkaufen die Menschen zurück an die Familien."

Ende 2011 erschien das zweite Buch von Pérez, "Das schwarze Kartell". Wieder geht es um die Verstrickungen des mächtigen Drogenkartells von Sinaloa. Es zapft jetzt auch Pipelines im Golf von Mexiko an, und vermarktet den Treibstoff bis in die USA - geduldet von Funktionären des Staates und mithilfe von Mitarbeitern der Öl-Firmen. Mexikos noch amtierender Präsident Calderón hatte nach seiner Wahl einen "Krieg gegen die Drogenmafia" ausgerufen. Die USA lieferten ihm Waffen, Tausende Soldaten und die Bundespolizei schickte der Präsident in den Einsatz gegen Drogenbosse. "Doch er ist mit seiner Politik gescheitert", sagt Pérez. Die Zahl der Toten stieg seit seinem Amtsantritt auf mindestens 50 000 Menschen. Eine Polizeireform schlug fehl. Ende Mai suspendierte Calderón drei Generäle, die Kontakte zu den Kartellen gepflegt haben sollen.

Zwar gab es auch Fahndungserfolge, etliche mächtige Drogenbosse seien gefasst worden, heißt es von der Regierung. Was sie nicht sagt: Es rücken immer neue Bosse nach. Calderóns Kampf zeigt keine Wirkung. Und Mexiko wirkt ausgezehrt.

Doch weil es nicht mehr nur um das Geschäft mit Drogen gehe, helfe auch keine Legalisierung von Rauschgift, sagt der Ökonom Buscaglia aus New York. Sicher sei der massenhafte Konsum in den USA und Europa mitverantwortlich für das Wachstum der Kartelle. Doch er ist längst nur ein Teil eines komplexen Systems, das kaum mehr aufzubrechen scheint.

Pérez sieht vor allem einen Weg zu einer Lösung: die Justiz. "Wenn Morde nicht ermittelt werden, wird weitergeschossen." 98 Prozent aller Verbrechen in Mexiko bleiben unaufgeklärt. "Der nächste Präsident muss sich dem Kampf der Korruption verschreiben", sagt sie. Der Krieg gegen die Mafia aber sei erst einmal nicht zu gewinnen.

Pérez ist raus aus diesem Krieg, vorerst. In Hamburg hat sie vor allem eines gewonnen: Freiheit. "Ich kann jetzt über die Straße gehen, ohne Bodyguard an meiner Seite."