Ex-Finanzminister Kudrin will eine neue Partei gründen, doch Putin setzt auf Härte. Oppositioneller Udaltsow ist erneut verhaftet worden.

Moskau. Der Mann auf der Bühne sieht sich Zehntausenden Menschen gegenüber, die laut "Schande!" rufen. Auf einer Demonstration gegen Wahlfälschungen in Russland fordert er wie andere Redner Neuwahlen unter Zulassung aller Parteien und den Rücktritt des berüchtigten Wahlleiters Wladimir Tschurow. Doch für viele ist der Redner, Ex-Finanzminister Alexej Kudrin, immer noch ein Vertrauter Wladimir Putins. In der seit den Parlamentswahlen vom 4. Dezember andauernden politischen Krise versucht Kudrin nun, die Rolle des Unterhändlers zwischen der Regierung und der Opposition zu spielen. Er führe Gespräche über die Gründung einer neuen liberalen Partei, meldete gestern die russische Tageszeitung "Kommersant".

Am vergangenen Sonnabend kam Kudrin zur größten Demonstration der vergangenen Jahre am Sacharow-Prospekt in Moskau. Etwa 70 000 Menschen versammelten sich, um gegen die gefälschten Wahlen, aber auch gegen Putin zu protestieren. Kudrin, den Putin noch vor wenigen Monaten als "Freund" bezeichnete, hatte es dort nicht einfach. Er ist aber nicht nur durch seinen gute Beziehungen zur Regierung, sondern vor allem durch seine liberale politische Position bekannt. Er konnte das Vertrauen ausländischer Investoren gewinnen, war er nie Mitglied in der Regierungspartei Geeintes Russland und konnte sich auch Kritik gegenüber den Machthabern erlauben. Ein öffentlicher Streit mit Präsident Dmitri Medwedew kostete ihn seinen Posten, doch seinen politischen Einfluss hat er nicht verloren.

+++Putin oder Demokratie+++

Am Sonnabend forderte er auf der Demonstration "einen Dialog zwischen der Gesellschaft und der Macht". Er sei bereit, bei der Organisation der Neuwahlen mitzuhelfen. Es sei notwendig, ein neues Wahlgesetz zu verabschieden, alle Oppositionsparteien zu registrieren und einen fairen Wahlkampf zu garantieren. "Diese Entscheidungen müssen bis zum 4. März getroffen werden, sonst entsteht die Gefahr einer Revolution, sonst verlieren wir die Chance, einen friedlichen Ausweg aus der Situation zu finden", sagte Kudrin mit Blick auf die Präsidentenwahl in gut drei Monaten.

Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow forderte Putin auf, seinem Beispiel zu folgen und ebenfalls zurückzutreten. Gäbe Putin das Amt jetzt ab, bliebe er für das Positive in seiner zwölfjährigen Zeit an der Macht in Erinnerung, erklärte Gorbatschow im Rundfunksender Echo Moskaus. "Ich bin froh, dass ich noch erleben durfte, wie die Menschen aufwachen", sagte der 80-Jährige, der vor genau 20 Jahren als letzter sowjetischer Staatschef zurückgetreten war.

Die Proteste, die ein für Russland ungewöhnliches Ausmaß erreicht haben, verunsichern die Machthaber. Zumindest ein Teil der Elite scheint zu den Verhandlungen bereit zu sein. So auch Medwedew-Berater Arkadi Dworkowitsch, der gestern im Radiosender Echo Moskaus von der Notwendigkeit eines Dialogs mit der Gesellschaft sprach. "Wenn es einen Dialog gibt, wenn Entscheidungen nach einer Beratung mit allen wichtigen politischen Kräften und der Zivilgesellschaft getroffen werden, kann die Gesellschaft langsam der Macht vertrauen", sagte er. "Eine neue Partei, die Interessen einer Mehrzahl der Bürger widerspiegeln würde", solle entstehen. Eine Einigkeit in der Regierung und im Kreml gibt es jedoch nicht. Im Gegensatz zu Medwedew - oder zumindest dessen offiziell verkündeten Reformbereitschaft - ist Putin offenbar entschlossen, eine harte Linie durchzusetzen. Sein Pressesprecher Dmitri Peskow sagte zu der Kundgebung am Sacharow-Prospekt, die Demonstranten seien lediglich eine Minderheit in der Gesellschaft, Putin genieße nach wie vor Unterstützung der Mehrheit der Russen. Aber Putin weiß: Auch wenn der Schwerpunkt der Proteste in Moskau und anderen Großstädten liegt, schwindet seine Popularität im ganzen Land, und für einen Sieg im ersten Wahlgang bei den Präsidentenwahlen in März könnte es eng werden.

Indem Putin auf Konfrontation geht, provoziert er weitere Proteste, die nun vor allem direkt gegen ihn gerichtet sind. Nach der Großdemonstration am 10. Dezember am Bolotnaja-Platz hatte er in einer Fernsehshow die Opposition als "Bandar-logs", die Affen aus Kiplings "Dschungelbuch", verhöhnt und behauptet, die Proteste seien von den USA finanziert worden. Das weiße Band - das Symbol des Widerstands - verglich er in einem seiner Macho-Witze mit einem Kondom. Am Sonnabend trugen Demonstranten daraufhin zahlreiche Plakate mit Putins Konterfei in Kombination mit einem Kondom und Aufschriften wie "Nicht wiederverwendbar!" oder "Nur Einwegnutzung". Diesem Protest hat das System bislang nur Repression entgegenzusetzen. So wurde der Oppositionsaktivist Sergei Udaltsow am Sonntag erneut zu zehn Tagen Haft verurteilt. Seit dem 4. Dezember ist er im Gefängnis, und wenn eine Frist von 15 Tagen abläuft, wird gegen ihn aus fadenscheinigen Gründen ein neuer Prozess verhängt. Am Sonntag standen Dutzend Journalisten vor geschlossenen Türen des Gerichts und riefen: "Lassen Sie uns in den Saal!" Klar ist jedoch, dass der Vorwurf gegen Udaltsow, am 24. Oktober Widerstand gegen die Polizei geleistet zu haben, absurd ist. Ein Video zeigt Udaltsow, wie er an dem Tag vor Journalisten steht und erklärt, dass er gleich allein seinen Protest gegen die kommenden Parlamentswahlen beginnen werde, zu der nicht alle Parteien zugelassen worden waren. Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, schleppten ihn Polizisten in einen Bus. Auf dem Video ist zu sehen, dass sich Udaltsow ruhig verhielt - mehrere Polizisten behaupteten allerdings im Gericht, er hätte sich gegen die Festnahme gewehrt und geschrien.

Die Entscheidung der Richterin Olga Borowkowa beruht unter anderem auf einigen Dokumenten, die nicht mehr vorhanden sind. Nach Angaben der Verteidiger wirft das Gericht dem Abgeordneten Ilja Ponomarew vor, mehrere Seiten aus der Udaltsow-Akte gestohlen und aufgegessen zu haben. Dann verlas die Richterin ihr Urteil so leise, dass nicht einmal Udaltsows Anwälte sie hören konnten. Der Angeklagte wurde ohnmächtig, noch bevor Borowkowa ihre Entscheidung über die Verlängerung der Haft um weitere zehn Tage aussprach. Seit seiner Festnahme am 4. Dezember ist Udaltsow im Hungerstreik, er wurde mehrmals in ein Krankenhaus gebracht. Auch am Sonntag wurde er aus dem Gerichtssaal in eine Klinik eingeliefert. Menschenrechtler erklärten, sie begännen nun eine Mahnwache für Udaltsows Freilassung.