Hat er das Land ins Abseits gedrängt? Die einen machen sich Sorgen um die Briten, die anderen sehen sogar einem Austritt gelassen entgegen.

London. Kann Cameron das erklären? Nach seinem spektakulären Nein zu einer Änderung der EU-Verträge in Brüssel gerät der britische Premierminister David Cameron im eigenen Land zunehmend politisch unter Druck. Vor einer Erklärung Camerons im Parlament am Montagnachmittag bezeichnete der Oppositionspolitiker David Miliband des Verhalten des Regierungschefs als „töricht“. Massive Kritik kam auch aus den Regionen: Schottlands Ministerpräsident Alex Salmond warf Cameron einen „groben Fehler“ vor. Sein walisischer Amtskollege Carwyn Jones drückte sein Bedauern aus.

Der frühere britische Außenminister Miliband glaubt, Camerons Entscheidung könne Großbritannien für die nächsten 20 Jahre in Europa an die Seite drängen. „Die Annahme, dass wir uns in Sachen Wirtschaftspolitik oder Außenpolitik etwas Gutes tun, wenn wir uns von unseren Nachbarn absetzen, ist wirklich töricht“, sagte Miliband dem Sender BBC Radio 4. „Es ist das erste Veto in der Geschichte, das nichts stoppt.“

Der westminster-kritische Chef der schottischen Regionalregierung, Alex Salmond, war Cameron in einem offenen Brief frontal angegangen und hatte ihm einen Katalog mit sechs kritischen Fragen vorgelegt. So will Salmond wissen, ob Cameron irgendeine Risikoabwägung vorgenommen habe, die die Folgen seines Verhaltens bewerte. Salmond will zudem eine Antwort auf die Frage, warum Cameron die Regionalregierungen in Edinburgh, Cardiff (Wales) und Belfast (Nordirland) nicht vorab von seiner Absicht unterrichtet hatte.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wandte sich unterdessen gegen eine Isolierung Großbritanniens. In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ sagte er: „Die Tür für Großbritannien bleibt offen.“ „Ich hoffe, dass die Briten die offene Tür durchschreiten werden."

EU-Währungskommissar Olli Rehn bedauerte die Entscheidung ebenfalls – nicht nur wegen der Eurozone, sondern auch in Sorge um die Briten, wie er sagte. Die Vize-Präsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding, ist dagegen zuversichtlich, dass Großbritannien beim neuen EU-Vertrag noch einlenkt. „Aus der Erfahrung wissen wir, dass die sich immer etwas zieren und dann nach einer Brücke Ausschau halten, um doch noch dabei zu sein“, sagte Reding dem Sender MDR INFO. „Die Briten brauchen uns mehr, als wir die Briten brauchen.“

Zuvor hatten die Koalitionspartner von Camerons Konservativen, die britischen Liberaldemokraten, scharfe Kritik am Regierungschef geübt. Vizepremier Nick Clegg sagte: „Ich fürchte, es besteht nun die Gefahr, dass Großbritannien innerhalb der Europäischen Union isoliert und an den Rand gedrängt wird.“ Führende Liberaldemokraten, darunter Wirtschaftsminister Vince Cable, betonten aber am Montag, sie wollten die Koalition mit Cameron fortführen.

Cameron hatte beim EU-Gipfel in Brüssel am frühen Freitagmorgen auf einem Tauschhandel beharrt und damit beinahe die gesamte EU, vor allem aber Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy verärgert. Für seine Zustimmung zu den geplanten Änderungen in den EU-Verträgen wollte Cameron ein britisches Vetorecht bei künftigen Entscheidungen zur Finanzmarktregulierung heraushandeln. Ziel Camerons ist es, die Interessen Londons als größter Finanzplatz Europas zu wahren.

Sarkozy hat angekündigt, dass die rechtlichen Aspekte des neuen Vertrags über eine Fiskalunion ohne Großbritannien zügig ausgearbeitet werden. Dies solle in den nächsten 15 Tagen geschehen, sagte Sarkozy in einem auf der Internetseite von „Le Monde“ am Montag veröffentlichten Interview.

Der britische Politologe Anthony Glees hält angesichts des Streits sogar einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union für möglich. „Wenn man nach 50 Jahren europäischer Zusammenarbeit immer noch skeptisch ist (...), dann ist man eigentlich nie für die Europäische Union zu gewinnen“, sagte der Universitätsprofessor aus Buckingham nordwestlich von London im Deutschlandfunk. In der EU sei es wie in einer Ehe: „Wenn einer nicht mehr will, dann ist die Ehe aus.“

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Hintergrund: Schottland und Wales mit eigenen Europa-Interessen

Ein Teil von Großbritanniens Regionen sehen den EU-Boykott von Premierminister David Cameron kritisch. Zumindest Schottland und Wales haben eigene Interessen, die von der harten Haltung Westministers in Brüssel beeinträchtigt werden könnten: SCHOTTLAND: Schottland wird von der linksliberalen Schottischen Nationalpartei regiert, die ohnehin mehr Eigenständigkeit – am besten sogar Unabhängigkeit – von London will. Ministerpräsident Alex Salmond befürchtet, Cameron kann mit seiner Haltung bewirken, dass Großbritannien bei wichtigen, auch Schottland betreffenden EU-Entscheidungen nicht mehr am Tisch sitzen. Dabei geht es dem ölreichen Schottland um Umweltschutzrichtlinien genauso wie um Energiepolitik und Fischereiangelegenheiten. Für das Milliarden-Geschäft mit schottischem Whisky ist die EU einer der wichtigsten Absatzmärkte. WALES: Die Exporte in die EU und die Eurozone sind auch in Wales die größte Sorge. Wales hatte nach dem Niedergang der Bergbauindustrie seit den 1980er Jahren eine große Zahl von ausländischen Unternehmen, vor allem aus den USA, angezogen, die mit der Eurozone Handel treiben. Die früher vom Kohlebergbau geprägte Region ist froh, auf diese Weise Arbeitsplätze und einen gewissen Wohlstand geschaffen zu haben und fürchtet nun um das Erreichte. NORDIRLAND: Der Chef der nordirischen Regionalregierung, Peter Robinson, ist euroskeptisch. Er gab Cameron am Montag Rückendeckung. Zwar gehöre Nordirland zu den Profiteuren der EU. Großbritannien als Ganzes müsse aber mehr einzahlen, als es herausbekomme. Nordirland wird derzeit von einer Koalition aus pro-britischen Unionisten und der pro-irischen, katholischen Sinn-Fein-Partei regiert. Auch diese ist eher euroskeptisch. Vize-Parteichefin Mary Lou McDonald warnte vor noch größerem Einfluss „nicht gewählter Eurokraten“. (dpa)