Der Kremlchef und Kanzlerin Merkel schalten am Dienstag die Ostseepipeline offiziell frei. Doch das Milliardenprojekt ist umstritten

Lubmin. Der Kanzler kommt. Nicht im streng gesicherten Block der Politiker wird er Platz nehmen, dort, wo seine Nachfolgerin Angela Merkel und Russlands Präsident Dmitri Medwedew neben den Regierungschefs aus Frankreich, den Niederlanden und EU-Kommissar Günther Oettinger die erste Reihe füllen. Gerhard Schröders Platz ist im Block der Nord Stream AG.

Seit März 2006, wenige Monate nach Ende seiner Kanzlerschaft, ist der SPD-Politiker Aufsichtsratsvorsitzender einer Tochterfirma des russischen Gasmonopolisten Gazprom. Wenn am Dienstag die politische Prominenz in einem symbolischen Fest in Lubmin den Gashahn der Ostseepipeline aufdreht, wird Schröder nicht auf dem Podium stehen. Er wird wohlwollend zuschauen. Ist doch alles gut gelaufen.

Erstmals strömt durch die Ostseepipeline nun direkt russisches Gas in das europäische Energienetz - die Geschäfte laufen jetzt auch ohne die Transitländer Weißrussland, Polen oder Ukraine. 7,4 Milliarden investierte Nord Stream in die Leitung. Denn der Mutterkonzern Gazprom kennt Europas Hunger nach dem Rohstoff. Seit Ende der 90er-Jahre ist Erdgas in der EU nach Mineralöl der zweitwichtigste Energieträger. Für die Bundesrepublik ist Russland der wichtigste Gaslieferant, 37 Prozent seines Erdgases bezieht Deutschland von dort.

Wie damals Schröder wirbt heute EU-Kommissar Oettinger für eine stabile Versorgung durch die Ostseepipeline. Doch lohnen sich die milliardenschweren Investition überhaupt? "Es gibt ein Überangebot an Gas", sagt Claudia Kemfert, Energieökonomin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Und die USA fördern immer mehr Erdgas aus unkonventionellen Quellen wie Schiefersteinschichten und bieten es auf dem Rohstoffmarkt an. An der Börse fällt der Preis.

Ausgerechnet in dieser Zeit unterbreiten Gazprom und Co. mit der Ostseepipeline dem europäischen Markt ein weiteres gewaltiges Angebot: 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr sollen schon bald durch die 1224 Kilometer lange Pipeline auf dem Boden der Ostsee fließen. Eine Station in der russischen Bucht Portowaja pumpt das Erdgas mit 70 Bar Druck durch die insgesamt 200 000 Röhren in Richtung Mecklenburg-Vorpommerns Küste. Eine Anlandestation in Lubmin bei Greifswald verteilt den Rohstoff über die neu verlegte Festlandtrasse Opal des Energiekonzerns Wingas in Richtung tschechische Grenze - und von dort aus ins europäische Netz.

Eine weitere Trasse soll 2012 Gas aus Lubmin bis zum Gasspeicher Rehden bei Bremen transportieren. Die Ostsee-Pipeline versorgt bald 26 Millionen Haushalte in sieben europäischen Staaten. Und ohne die Gebühren an Transitländer sollen die Geschäfte für Gazprom mit der Tochter Nord Stream noch besser laufen. Darauf hoffen auch die Wintershall, E.on Ruhrgas und französische und niederländische Konzerne, die sich an Nord Stream beteiligen.

Doch die Konkurrenz plant bereits ähnlich teure Projekte. Europas Energieriesen buhlen um die Geschäfte am Gasmarkt. Vor allem am Kaspischen Meer rüsten Konzerne auf. Über die Nabucco-Pipeline, die vor allem die EU-Kommission stark vorantreibt, soll ab 2017 Gas gen Westen strömen. Nabuccos Konkurrenzprojekt, die Trans Adriatic Pipeline TAP und der Italy Turkey Greece Interconnector (ITGI), will die geplante Leitung an das türkische Gasnetz andocken.

Der britische Öl-Multi BP hat vor Kurzem Pläne für eine Pipeline vom Kaspischen Meer nach Europa veröffentlicht. Und auch Gazprom mischt in Südeuropa mit. Mitte September unterzeichnete ein Konsortium die Verträge für South Stream.

Im Wettlauf um die lukrativen Leitungen für Westeuropa ist Gazprom der Konkurrenz ab Dienstag einen gewaltigen Schritt voraus. Auch dank Gerhard Schröder. 2005 brachte er als Bundeskanzler das Projekt auf den Weg - gemeinsam mit seinem Freund und Kremlchef Wladimir Putin. Vor ein paar Wochen trafen sie sich an der Pumpstation in Portowaja - und weihten schon einmal allein die Ostseepipeline ein. Es gab Bier zum Anstoßen. "Gerhard, ich bin sehr froh, dass wir diesen Punkt erreicht haben", hat Putin laut Agentur Interfax gesagt.

Doch vielleicht läuft am Ende doch alles nicht so gut für die Nord Stream AG, für Gazprom und für die anderen Energieprojekte wie Nabucco. Denn nicht nur ist ausreichend Gas vorhanden - der Gasverbrauch in Deutschland stagniert auch. Und das schon seit Jahren. Noch schlimmer für die Konzerne: Bis 2022 erwarten die deutschen Netzbetreiber einen Rückgang des Gasbedarfs über alle Branchen um 14 Prozent. Vielleicht sogar um 25 Prozent.

Die Bedeutung der Ostseepipeline sei längst nicht mehr so groß wie 2005, als Putin und Schröder das Projekt besiegelten, sagt Oliver Geden, Energieexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Ursachen für den Rückgang des Verbrauchs sind die Wirtschaftskrise, der Ausbau der erneuerbaren Energien und eine verbesserte Energieeffizienz.

Doch seit diesem Sommer gibt es eine Variable, deren Auswirkung nur schwer vorhersehbar ist - und die dem Geschäft mit Gas eine lukrative Renaissance bescheren könnte: die Energiewende der Bundesregierung. Bis 2022 sollen alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden, bis Mitte des Jahrhunderts 80 Prozent der Energie aus Windkraft, Solarenergie oder Erdwärme stammen.

Doch der Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien benötigt Übergangstechnologien. Gas könnte in diese Lücke stoßen. Der Rohstoff war vor zehn Jahren noch als klimaschädlich verschrien. Heute gelte er sogar Umweltschützern als Brückentechnologie, sagt Experte Geden. Wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint, können Gaskraftwerke einspringen. Sie sind weniger klimaschädlich als die Energie aus Kohle.

Der Ausstieg aus der Atomkraft macht aus dem Geschäft mit dem Gas auch ein Politikum. Hängt die deutsche Energiewende am russischen Gashahn? Seit den Gaskrisen 2006 und 2009 zwischen Russland und der Ukraine reagieren Deutschland und die anderen EU-Staaten sensibel auf Energieabhängigkeit. Damals floss für eine kurze Zeit auch kein russisches Gas mehr in Richtung Westeuropa. Doch Experten sehen nicht, dass sich der Westen mit der Ostseepipeline an den russischen Gashahn fesselt. "Russland war für Westeuropa in der Vergangenheit immer ein stabiler Gaslieferant", sagt Geden. Deutschland ist zudem bei der Gaslieferung sehr flexibel, es bezieht den Energieträger auch aus Norwegen und den Niederlanden. Mit Deutschlands Gasspeichern lassen sich Engpässe leicht überbrücken.

Auch nach Ansicht von EU-Kommissar Günther Oettinger diene das Pipeline-Projekt in der Ostsee "wirtschaftlichen und politischen Zielen beider Seiten", denen Russlands und Europas. Beim Aufbau einer modernen Energieinfrastruktur, insbesondere von europäischen Gasleitungen, spiele die Energiepartnerschaft zwischen Russland und der EU eine besondere Rolle, sagte Oettinger dem Hamburger Abendblatt vor der Inbetriebnahme der Ostseepipeline. "Wir stärken die Versorgungssicherheit, und mit den Nord-Stream-Gesellschaftern verbinden wir wichtige Gasunternehmen der EU-Mitgliedstaaten und Russlands."

Lubmin wird nun der Knotenpunkt dieser neuen Verbindung sein. Im April 2010 begannen dort die Bauarbeiten für den Anlandepunkt. Allein darin investierte Nord Stream 100 Millionen Euro. Doch eine Jobmaschine wird die Pipeline für Lubmin nicht. Gerade einmal zwölf neue Arbeitsplätze entstehen. Nicht viel, auch wenn Nord Stream in einer Lubminer Kita neue Laptops finanzierte - und die Fußballer von "Sturmvogel e. V." jetzt einen neuen Sponsor haben. Bald schon könnte die Gemeinde stärker von der Gewerbesteuer profitieren. Die Nord Stream AG mit Sitz in der Schweiz hat nun auch eine Betriebsstelle in Lubmin.