Die Bilder des blutenden Gaddafi wirken abstoßend - sind aber ein Dokument der Zeitgeschichte

Hamburg. Sichere Informationen gibt es bisher kaum, drastische Bilder umso mehr. Der Tod des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi ist auch ein Medienereignis. Offenbar in den letzten Minuten im Leben des Diktators zerrt ein aufgebrachter Mob Gaddafi auf einen Lastwagen, sein Gesicht ist rot vom Blut der Wunden. Lynchjustiz vor laufenden Handykameras? Kurz danach taucht das erste Foto des toten Diktators in den Medien auf. Der AFP-Fotograf Philippe Desmazes fotografiert das Bild vom Display des Mobiltelefons eines Augenzeugen ab. Es geht um die Welt. Die "Bild" und andere Zeitungen druckten das Foto. Der Brutalität dieser Bilder folgen Fragen: Was sollten Medien zeigen? Wo liegen die Grenzen? Wie viel Informationen stecken in diesen Bildern? Was ist voyeuristisch?

Für den Medienpsychologen und Direktor am Deutschen Digital-Institut in Berlin, Jo Groebel, ist klar: "Die Bilder sind heikel, sie stoßen an eine Grenze", sagt Groebel dem Abendblatt. Doch er gibt zu bedenken: Die Bilder lassen sich in Zeiten des Internets nicht unterdrücken. Sie finden den Weg von den Handykameras der Augenzeugen in Internetportalen wie YouTube.

Auch die Nachrichtensendungen der ARD strahlten Videos von Augenzeugen aus. "Wir zeigen nicht alle Bilder vom toten Gaddafi, die wir haben. Es gibt klare ethische Grundsätze der ARD, einer davon ist: keine Nahaufnahmen von Toten", sagt der Zweite Chefredakteur der "Tagesschau" und "Tagesthemen", Thomas Hinrichs, dem Abendblatt. Diese Entscheidung sei bei Anschlägen einfach. "Beim Tod Gaddafis ist dies komplexer, denn die Bilder werden zu Dokumenten der Zeitgeschichte", so Hinrichs. Die Zuschauer würden wissen wollen: Liegt dort der tote Diktator? Deshalb zeige die ARD in diesem Fall Bilder der Handykameras, bleibe aber bei den Grundsätzen.

Noch als Standbild gingen 1989 die Aufnahmen des getöteten rumänischen Herrschers Nicolae Ceausescu um die Welt. Wer die Aufnahmen von der Hinrichtung des irakischen Diktators Saddam Hussein sehen wollte, bekam sie im Internet. Vom erschossenen Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden gab es im Mai dieses Jahres keine veröffentlichten Bilder. Die USA wollten so eine Ikonisierung vermeiden. Verbotene Bilder, sagt Groebel, werden schnell zu Ikonen. Umso wichtiger sei es, dass Bilder wie die von Gaddafi durch Journalisten eingebettet werden in einen Kontext.

Ethik und Verantwortung einerseits, Beweise andererseits. Das Dilemma stellt sich Redaktionen in digitalen Zeiten immer häufiger. Die Bilder sind da - und es werden mehr. Auch beim Hamburger Abendblatt wurde diskutiert, welche Bilder in die Zeitung kommen. Die Redaktion hat sich entschieden, die Nahaufnahme des toten Gaddafis nicht zu drucken. Auch wenn das Bild eine Information trägt, gilt der Grundsatz der Menschenwürde. Auch für tote Diktatoren.