Gut 17 Jahre nach Ende der Apartheid in Südafrika sprechen viele von einem neuen Rassismus - jetzt fühlen sich Weiße diskriminiert.

Am Vormittag, gerade als die "Queen Mary" einlief, war es zu neblig, und jetzt am späteren Nachmittag ist es zu heiß zum Speedboat-Fahren. Außerdem ist das Meer zu unruhig. Melanie Stockmann schwitzt an ihrem Stand auf den Planken der "Waterfront", trotz Sonnenschirms und kecken Sonnenhuts, und so wie es aussieht, wird sie heute wohl umsonst schwitzen. Bisher hat sie nur drei Tickets à 350 Rand (etwa 35 Euro) für den einstündigen Atlantikritt mit Tempo 120 verkaufen können.

Die 41 Jahre alte Hotelkauffrau ist vor zwei Jahren aus Düsseldorf in ihre Geburtsstadt Kapstadt zurückgekehrt. 25 Jahre zuvor hatte sie das Land mit ihren Eltern verlassen, als ihr Vater nach einem längeren Südafrika-Engagement einen Posten in der deutschen Textilindustrie angeboten bekommen hatte, den er nicht ablehnen konnte. Melanie arbeitete nach ihrer Ausbildung und einem Touristikstudium knapp 15 Jahre als Hotelmanagerin in Düsseldorf und Duisburg, heiratete, führte ein Leben im Galopp. Als ihre Ehe scheiterte, entschloss sie sich zu einem Neustart am Kap der Guten Hoffnung. "Ich hatte erwartet, dass man hier in den großen Hotels auf eine Fachkraft wie mich warten würde. Aber die guten Jobs kriegten entweder die Schwarzen, oder aber die Angebote waren so miserabel, dass ich nicht überlebt hätte. Dann schon lieber diesen Job hier, knapsen und hoffen."

Zehn Prozent der Umsätze aus den Ticketverkäufen darf sie für sich behalten. Ihr Erspartes ist längst aufgebraucht, der Monatsverdienst reicht gerade mal für ein Leben an der Unterkante: Für ihr kleines Apartment im Stadtteil Rondebosch, immerhin einem der besseren Stadtviertel, in Uni-Nähe, zahlt sie im Monat umgerechnet 350 Euro. Der Rest geht drauf für die Grundversorgung; manchmal gönnt sie sich einen Sauvignon Blanc in Mitchell's Brewery, Kapstadts ältester Kneipe am Hafen. Ihre Eltern möchten, dass sie wieder nach Deutschland zurückkehrt, aber dafür ist Melanie zu stolz. Noch. "Ich weiß, dass ich es hier schaffen werde", sagt sie, ballt die linke Hand zur Faust und es klingt trotzig. Dabei hatte sie sich eigentlich bloß nach dem angenehmen Klima gesehnt und dem lässigeren Lebensstil, hier in der letzten wirklich weißen Bastion auf dem Schwarzen Kontinent, wo das Wochenende meist schon am Freitagmorgen beginnt. Wer sich einmal mit dem "Kapstadt-Virus" infiziert hat, sagt man, wird es nicht mehr los.

Ein paar Meter weiter befindet sich Liz Gates, eine gebürtige Südafrikanerin, in einer ähnlichen Situation wie Melanie Stockmann. Auch sie repräsentiert eine der rund 20 Firmen, die an der "Waterfront" touristische Attraktionen vermarkten. Ihren Job verlor die ehemalige Chefsekretärin eines großen Kapstadter Architekturbüros bereits vor vier Jahren. Ihre Firma musste eine Schwarze einstellen. "Wegen der Quote", erzählt die 42 Jahre alte Liz und lächelt gequält: "Früher habe ich es mir aussuchen können, wann und wo ich ein Sonnenbad nehme. Jetzt bin ich zwar permanent an der frischen Luft, aber dafür um zehn Jahre schneller gealtert ..." Warum sie keine geregelte Arbeit bekommt? "Das müssen Sie die Rassisten vom ANC fragen. Für uns Weiße gibt's einfach keine Jobs mehr." Der ANC ist die Partei African National Congress.

Rassismus. Gut 17 Jahre nach dem Ende der Apartheid, ein Dreivierteljahr nach den fröhlichen Fußball-Festspielen, macht das Unwort die Runde, beinahe lauter als früher und vor allem hier, in der starken Wirtschaftsregion, wo die meisten der rund 5,9 Millionen Steuerzahler sitzen, die das Land mit seinen 50 Millionen Einwohnern finanzieren. 3,9 Millionen von ihnen sind weiß, eine Million sind schwarz, den Rest teilen sich die Farbigen und die Inder. Rassismus: bloß, dass sich jetzt vor allem diejenigen unterdrückt und betroffen fühlen, die nicht der schwarzen Bevölkerungsgruppe angehören.

Das Westkap ist die Einzige von insgesamt neun südafrikanischen Provinzen, die von der Democratic Alliance (DA), der mit 16,6 Prozent der Stimmen zweitstärksten Partei im Staat, regiert und verwaltet wird; am Kap hat die DA sogar die absolute Mehrheit. An der Spitze von Partei und Provinz steht die deutschstämmige Helen Zille. Der 60-jährigen Politikerin ist es gelungen, den Großteil der Weißen und der Farbigen hinter sich zu vereinen. Als Bürgermeisterin von Kapstadt hatte sie von 2007 bis zu den Parlamentswahlen 2009 den "Korruptionssumpf" innerhalb der Kapstädter Stadtverwaltung trockengelegt und den maroden Finanzhaushalt der Stadt saniert. Jetzt versucht sie, noch mehr schwarze Wähler für ihre Partei zu gewinnen, ohne dabei freilich ihre weißen Anhänger zu verprellen. Der Vorwurf, sie sei eine Rassistin, gleitet an der deutschstämmigen Halbjüdin ab wie ein Spiegelei aus einer Teflonpfanne. Helen Zille hatte sowieso schon zu Apartheid-Zeiten immer gegen die rigide südafrikanische Rassenpolitik agitiert. Iszhak Mustifa gehört als "Farbiger" zu der gesellschaftlichen Gruppe, die der neue Rassismus ebenfalls trifft, und das schon zum zweiten Mal. Der 50 Jahre alte Straßenbauingenieur muss seine fünfköpfige Familie seit Kurzem als Taxifahrer durchbringen. "Noch gehöre ich der Mittelschicht an", sagt er, "ich bin privilegiert, habe ein Haus und meine Kinder gehen auf private Schulen." Aber er wisse natürlich nicht, wie lange er sich das mit der Taxifahrerei noch leisten könne. "Früher waren wir Farbigen nicht weiß genug, jetzt sind wir plötzlich nicht schwarz genug", sagt er. Es klingt verbittert - und es ist der Satz, der in Südafrika mittlerweile zum geflügelten Wort geworden ist. Er unterstütze daher aktiv die integrative Rassenpolitik der DA, denn der ANC, so Mustifa, verfolge doch lediglich den Kurs eines schwarzen Nationalismus. "Die Schwarzen Südafrikas haben einfach keinen Sinn für Vielfalt."

1994, als das Ende der Apartheid mit der Entlassung Nelson Mandelas nach über 27 Jahren Haft besiegelt wurde, sah das noch anders aus. Der spätere Präsident stellte sich vor die jubelnde Menge und rief seine mittlerweile berühmt gewordenen Sätze: "Ich habe gegen die weiße Vorherrschaft gekämpft. Ich habe gegen die schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe den Traum einer demokratischen und freien Gesellschaft gelebt, in der alle gemeinsam in Harmonie leben können." Und zunächst schien sich Mandelas Vision eines geeinten Südafrikas zu erfüllen. "Wir wollen keine Rache und keine Revanche", so Mandela, "die Rassentrennung muss auch in den Köpfen beendet werden." Nur ist heute nichts mehr von der "Regenbogen-Nation" zu spüren, die auch Mandelas Freund Erzbischof Desmond Tutu herbeipredigen wollte. Das Land, in dem Weiße und Schwarze, Inder und Mischlinge zum Wohle der Nation zusammenarbeiten, ist stattdessen zerrissen, vor allem in sozialen und Arbeits- und Bildungsfragen.

"Es gibt Situationen, da fühlen wir uns wie Menschen zweiter Klasse und ungerecht behandelt", sagt Caroline von Frankenberg. Die gebürtige Hamburgerin, 46, lebt seit knapp 20 Jahren in Südafrika, wo sie mit ihrem Mann, einem Johannesburger Rechtsanwalt, in der Nähe von Wellington, etwa eine Autostunde östlich von Kapstadt, das renommierte Weingut Mont du Tois betreibt. "Ein weißes Kind muss in der Abschlussprüfung mindestens 97 Prozent der Ergebnisse erreichen", sagt sie, "einem schwarzen Kind genügen dagegen schon 75 Prozent, um die Universität besuchen zu dürfen."

Die Folgen dieser Bildungspolitik sind für die intellektuelle und soziale Infrastruktur des Landes fatal: Weiße und Farbige werden immer häufiger durch Schwarze ersetzt, denen die Qualifikation fehlt. So fehlen - trotz der Anstrengungen im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft - bis heute mehrere Tausend Ingenieure, sodass die bisher mühsam aufgebaute Infrastruktur verfällt. Mehr als die Hälfte der Straßen befinden sich in einem katastrophalen Zustand, ein Drittel aller Stadtbediensteten, auch der Würdenträger sowie Polizisten, gilt als Analphabeten.

"Dafür kann man sich wenigstens darauf verlassen, dass die Kriminalitätsrate steigt", sagt John Kane-Berman, Direktor des Instituts für Rassenbeziehungen in Johannesburg, "im Jahr 2009 wurden 2,1 Millionen schwere Gewaltverbrechen registriert." Der Wissenschaftler beklagt seit Jahren, dass die aktuelle Anti-Rassismus-Politik des ANC der schwarzen Bevölkerung gegenüber kontraproduktiv sei. Es werde viel zu wenig getan, um schwarze Menschen zu fördern. "Die Regierung Zuma konzentriert sich lieber darauf, Behörden und Institutionen zu schaffen, mit denen die rassische Zusammensetzung in der Verwaltung sowie in der freien Wirtschaft überprüft werden soll." Dabei wäre es wichtiger, die Gelder in den Bildungssektor zu investieren, denn schließlich seien die Schwarzen über Generationen hinweg absichtlich dumm gehalten worden. "Woher soll denn die Klugheit kommen?", fragt Kane-Berman.

Schon lange zählt die Quote mehr als Leistung und Know-how. Die Weißen bekommen diese neue Diskriminierung am heftigsten zu spüren. Sie werden zwar nicht aus dem Land gejagt, aber immer mehr Südafrikaner müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, ihr künftiges Glück in Australien oder Neuseeland zu versuchen. Ein neuer Geschäftszweig in den Metropolen Kapstadt und Johannesburg boomt: "Auswanderungs-Vorbereitungsseminare".

Zwar weist Südafrika in vielen Bereichen ökonomische Stärken auf, doch die sozialen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung sind trotz Fortschritten noch immer gewaltig. Mehr als 40 Prozent der Schwarzen leben in Slums, von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Ihr Zorn richtet sich logischerweise gegen die ehemaligen "weißen Herren". Doch die fortschreitende Abwanderung von qualifizierten Kräften, auch aus dem Dienstleistungsgewerbe, kann Südafrika - ohne negative Folgen für das angestrebte Wirtschaftswachstum - auf Dauer nicht verkraften.

Für Melanie Stockmann, die an ihrem Traumland festhält, könnte sich dieser Trend positiv auswirken: Gerade ist die Stelle des Restaurantleiters in der legendären Quay-4-Tavern am Victoria-and-Alfred-Basin frei geworden. Der Geschäftsführer ist am Nachmittag extra zu ihr herüber an den Stand gekommen und hat angefragt, ob sie der Job interessieren würde. Es gebe auch nur einen weiteren Bewerber - ebenfalls einen Weißen. "Ich wusste doch, dass es irgendwann klappen wird", sagt Melanie und strahlt.