Auch Ausnahmezustand konnte seine Regime nicht mehr retten

Tunis/Paris. Der Kniefall vor dem tunesischen Volk kam zu spät. Es war das erste Mal, dass der seit 23 Jahren wie ein Diktator regierende Präsident Zine al-Abidine Ben Ali in einer Rede Reue und ein deutliches Zeichen von Schwäche zeigte. Doch die Wogen des Zorns glättete der 74-Jährige damit nicht. Im Gegenteil: Beflügelt von Ben Alis Zusagen, künftig Demonstrationen zu dulden, gingen am Freitag Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Tunis auf die Straßen und forderten den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. "Ich fühle mich zum ersten Mal frei in meinem Land", sagte ein junger Tunesier vor laufenden Fernsehkameras. Und noch am Abend kam die Eilmeldung, dass Ben Ali das Land verlassen und Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi vorübergehend die Macht übernommen habe.

Aus den sozialen Protesten gegen Arbeitslosigkeit und Korruption war längst ein Volksaufstand geworden. Am Nachmittag ließ Ben Ali noch den Ausnahmezustand ausrufen. Die Armee übernahm die Kontrolle über den Flughafen von Tunis, die Behörden sperrten den Luftraum. Der Präsident kündigte die Entlassung der Regierung und vorgezogene Parlamentswahlen an. Alles ohne Wirkung auf die aufgebrachte Bevölkerung.

Nach friedlichen Demonstrationen am Vormittag herrschte am Freitagnachmittag auf den Straßen von Tunis unübersichtliches Chaos. Randalierer bewarfen Polizisten mit Steinen, Sicherheitskräfte feuerten in der Innenstadt Tränengasgranaten ab, um Demonstranten daran zu hindern, das Innenministerium zu stürmen. Aus Tausenden Kehlen hallten immer wieder "Nein zu Ben Ali"-Rufe durch die Stadt.

Die Medien des Landes berichteten erstmals seit Beginn der Unruhen unzensiert, unabhängige Journalisten übernahmen die Kontrolle über das Staatsfernsehen. Bis zur Rede Ben Alis am Donnerstagabend war Pressefreiheit ein Fremdwort in Tunesien.

Die Menschen auf der Straße wollen Ben Ali nach 23 Jahren der Unterdrückung allerdings keine Minute länger als nötig ertragen. "Das ist ein Lügner", "Glaubt ihm kein Wort", lauteten die Kommentare der Demonstranten. Bei seiner Rede hatte Ben Ali auch den Verzicht auf Polizeigewalt angekündigt. Doch noch während der Ausstrahlung schossen Sicherheitskräfte erneut scharf. Allein in der Nacht zum Freitag starben wieder 13 Menschen. Insgesamt sollen seit dem Beginn der Unruhen deutlich mehr als 70 Tunesier ums Leben gekommen sein.

Wie es in dem arabischen Land weitergeht, war am Freitagabend noch unklar. In Europa wird die Entwicklung mit Sorge beobachtet. Als einem der ganz wenigen Staatsoberhäupter in der Region war es Ben Ali gelungen, radikalislamische Kräfte bedeutungslos zu machen. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht galt der Mittelmeerstaat bislang als Musterland und beliebte Urlaubsregion in Nordafrika. Ob die Übergangsregierung die Lage stabilisieren kann und welchen Kurs sie einshlägt, ist derzeit nicht abzusehen.

Deutsche Reiseveranstalter reagierten unterschiedlich. Das Unternehmen Thomas Cook wollte seine Kunden zurückfliegen und sagte neue Flüge nach Tunesien ab. Andere große Anbieter warteten ab. In den Urlauber-Hotels war es zunächst ruhig geblieben. Das Auswärtige Amt in Berlin rät von Reisen nach Tunesien ab. Den Urlaubern, die sich derzeit in Tunesien aufhalten, empfiehlt das Ministerium, in den Hotels zu bleiben. Dort sei es für sie im Augenblick am sichersten. Derzeit halten sich 6000 bis 8000 Gäste deutscher Reiseveranstalter in Tunesien auf.