WikiLeaks hat mit seinen Veröffentlichungen die Welt aufgeschreckt. Dabei werden wir in 30 Jahren zurückschauen und uns fragen: Warum eigentlich?

Es ist alles eine Frage der Zeit. Einer Zeit, die wir noch nicht einmal in Ansätzen begreifen - und die durch das Internet geprägt wird. Denn das Netz ist nicht nur ein nettes Werkzeug zum Quatschen und Einkaufen, zum Twittern oder um auf Facebook Freunde anzustupsen. Computer pumpen rund um die Uhr Daten rund um den Erdball, und die meisten davon sind geheim. Es sind private E-Mails, die nur der Empfänger lesen soll. Fotos, die niemand sehen darf außer ein paar Freunden. Es sind Texte, Videos, Tabellen und noch nicht unterzeichnete Verträge.

Dass die Plattform WikiLeaks einige dieser geheimen Daten öffentlich gemacht hat und nun jeder lesen kann, wie die USA andere Nationen einschätzen und welche Infrastrukturen sie für sicherheitsrelevant oder anders ausgedrückt "mögliche Terrorziele" halten, hat viele Politiker aufgeschreckt.

Seitdem herrscht Krieg im Netz: Die Server von WikiLeaks werden mit Datenkanonen lahmgelegt, sie wurden gesperrt. Nicht nur der Gründer von WikiLeaks, sondern auch seine Website ist auf der Flucht - und wer hinter dem digitalen Angriff staatliche Stellen vermutet, wird wohl so falsch nicht liegen. Doch was ist eigentlich passiert? Eine Internetplattform hat brisante Dokumente veröffentlicht, mehr nicht. Und sie hat das nicht zum ersten Mal getan: Als WikiLeaks vor Monaten ein Video ins Netz stellte, das zeigte, wie US-Soldaten einen Journalisten erschossen, bekamen die Betreiber viel Zuspruch. Jetzt ist das anders. Der Grund dafür ist einzig, dass nach Sichtweise der peinlich Betroffenen die falschen Geheimnisse durch das digitale Leck geflossen sind. Nämlich ihre.

Was aber wäre gewesen, wenn es sich bei den Dokumenten um chinesische oder nordkoreanische Interna gehandelt hätte? Oder, zurückgedacht, um Beweise, dass es keine Massenvernichtungswaffen im Irak gibt? Wie viele Menschen wünschen sich derzeit, dass sich WikiLeaks der Fifa annimmt - oder der Arbeit der Atomlobbyisten im Deutschen Bundestag? Wie viele haben das Gefühl, dass etwas schiefläuft, und sehnen sich nach etwas mehr Transparenz?

Fest steht: Plattformen wie WikiLeaks sind nur der Anfang, oder besser gesagt: der derzeit sichtbarste Ausdruck einer neuen Zeit. Der Fall zeigt, wie radikal und rasant das Internet unsere Welt verändert. Und zwar unsere ganze Welt, vom Großen bis hin zum Kleinsten. Nichts, das digital ist oder sich digitalisieren lässt, wird geheim bleiben, wenn es nicht geheim bleiben soll. Keine Depesche und keine private E-Mail. Was einmal im Netz steht, kann so oft vervielfältigt werden, dass es nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Kein peinliches Foto, keine illegale Kopie eines Spielfilms und auch WikiLeaks nicht, im Gegenteil: Die Plattform wird derzeit an vielen Stellen im Netz geklont. Das ist die beste Überlebensstrategie in Zeiten technischer Reproduzierbarkeit.

Dabei ist gar nicht wichtig, ob es WikiLeaks weiter geben wird. Die Website ist ein Symbol, mehr nicht. Jeder kann im Netz alles veröffentlichen, es braucht keinen zentralen Ort. Andere werden diesen Weg weitergehen, und das kann ein guter Weg sein. Am wichtigsten ist jetzt, aus dem Fall zu lernen, dass er jeden persönlich betrifft. Weil das Internet jeden persönlich betrifft. Weil wir alle Geheimnisse haben.

In ein paar Jahren wird die Aufregung über WikiLeaks wirken wie heute 30 Jahre alte Filme, in denen jemand verzweifelt ein Münztelefon sucht, anstatt sein Handy zu benutzen. So haben die damals gelebt? Es fühlt sich an, als seien seither 100 Jahre vergangen. Wie aber wollen wir mit dem Internet leben? Das ist die Frage, die uns das Heute stellt. Es ist an der Zeit, in unserer Zeit anzukommen.