Zahl der Angriffe auf Koalitionstruppen nach unabhängigen Berichten um 59 Prozent gestiegen

Hamburg/Kabul. Ungeachtet massiver militärischer Anstrengungen der USA hat der Aufstand der militanten Islamisten in Afghanistan weiter an Kraft gewonnen und vermag nun auch neue Kämpfer in Regionen zu rekrutieren, in denen die Taliban bislang kaum in Erscheinung getreten waren.

Das geht aus einem Bericht des "Afghanistan NGO Safety Office" (Anso) in Kabul hervor. Das Projekt Anso, das von der Welthungerhilfe geleitet und unter anderem vom norwegischen Außenministerium gefördert wird, berät und unterstützt Nichtregierungs-Organisationen in Afghanistan. Nach Erhebungen von Anso ist die Zahl der Angriffe auf die Koalitionstruppen im dritten Quartal 2010 um 59 Prozent angestiegen. Im September sei die Rekordzahl von 1483 Angriffen erreicht worden.

Wie der US-Sender CNN berichtete, seien inzwischen einige Provinzen im Norden - wo auch die Bundeswehr ihr Einsatzgebiet hat - in der Gefahr, außer Kontrolle zu geraten. Zudem sei es in Kandahar und Mardscha im Süden "nicht gelungen, die Kampffähigkeit der Aufständischen herabzusetzen, die Zahl der zivilen Opfer zu reduzieren oder eine lokale Regierung zu installieren", wie Anso-Direktor Nic Lee sagte. Die Schlachten um Mardscha und vor allem um die Taliban-Hochburg Kandahar waren vom US-Militär als entscheidend für den Ausgang des Krieges angesehen worden. Doch die in den Kämpfen zunächst vertriebenen Taliban kehrten rasch zurück. Dem Anso-Report nach haben die Taliban im Süden und im Osten Afghanistans inzwischen eigene Verwaltungen eingerichtet. Ferner erhielten die Aufständischen zunehmend Unterstützung auch von Nicht-Paschtunen - wie Turkmenen, Usbeken und Tadschiken.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung muss offenbar die Bereitschaft des Westens gesehen werden, nun doch mit den Taliban zu verhandeln. Auf ihrem Gipfel in Brüssel hatte die Nato am Mittwoch eingeräumt, entsprechende Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Radikalislamisten einzufädeln. Wie die "New York Times" schrieb, dienen die verstärkten Angriffe mit US-Kampfdrohnen auf Führungspersonal von Taliban und al Qaida unter anderen auch dazu, die Aufständischen für einen Verhandlungskompromiss "weichzubomben". Auch Entführungen und Ermordungen von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen sind dem Anso-Bericht nach stark angestiegen - von 17 in den ersten neun Monaten des Jahres 2009 auf 25 im gleichen Zeitraum 2010.

In dieser Statistik ist der Tod der Schottin Linda Norgrove noch nicht enthalten, der gegenwärtig zwischen Washington und London für einige Unruhe sorgt. Norgrove, die von der Hebriden-Insel Lewis stammte, hatte für die Hilfsorganisation DAI gearbeitet und war am 25. September in der Provinz Kunar entführt worden.

Die promovierte Wissenschaftlerin war am 8. Oktober bei einer missglückten Befreiungsaktion amerikanischer Spezialeinheiten ums Leben gekommen. Zunächst hatte das US-Militär der britischen Regierung mitgeteilt, ein Selbstmordattentäter der Taliban habe sich mit Norgrove in die Luft gesprengt. Doch wie sich herausstellte, hatte ein Elitesoldat der US-Navy-Seals versehentlich eine Splitterhandgranate auf sie geworfen - nachdem sie ihren Kidnappern bereits entkommen war.

Der amerikanische Oberbefehlshaber in Afghanistan, General David Petraeus, eilte daraufhin nach London und versicherte Premierminister David Cameron, er werde die Aufklärung des Todes von Norgrove zu seiner persönlichen Angelegenheit machen. US-Präsident Barack Obama gab gegenüber Cameron in einem Telefonat eine gleichlautende Versicherung ab.