Die Reformvorschläge gehen weiter als alles, was bisher geschah. Ab morgen wird auf dem EU-Gipfel über die Pläne diskutiert. Was bringen sie?

Berlin. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sparte nicht mit großen Worten. "Wir sind jetzt in einem entscheidenden Moment der europäischen Integration", sagte er, kurz nachdem die Vorschläge für eine grundlegende Reform veröffentlicht waren. Europa brauche eine Vision und einen konkreten Weg, sie zu verwirklichen. Angelegt ist dieser Weg in einigen Punkten noch kaum, in anderen dafür sehr konkret: Was heißt es, wenn aus der Euro-Zone eine Bankenunion wird? Welche Chancen und Gefahren birgteine gemeinsame Aufsicht über dieFinanzindustrie, wie würden deutsche Steuerzahler durch Euro-Bonds belastet? Eine Analyse der einzelnen Bausteine des Plans für Europas Zukunft, über den die Staats- und Regierungschefs ab morgen bei ihrem Gipfel in Brüssel beraten werden.

Wachstumspakt

130 Milliarden Euro schwer soll der "Pakt für Wachstum und Arbeitsplätze" sein, den die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel schließen wollen. Besonders der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa wollen die EU-Spitzen so begegnen. Die Rentensysteme sollen entlastet werden, das Arbeitsrecht so weit modernisiert, dass es Firmen nicht davon abhält, neue Stellen zu schaffen. Wo die Staaten sich zurücknehmen können, wollen sie es tun: bürokratische Hürden senken, die Justiz entlasten, um Prozesse schneller zum Abschluss zu bringen. Die Gefahr ist, dass der Vertrag als Meilenstein beklatscht wird und im Archiv endet. Denn Fristen oder konkrete Vorgaben macht der Pakt nicht. Wo die Milliarden genau herkommen sollen, bleibt ebenso unklar. Am Ende werden die EU-Mitglieder alles hineinrechnen, was sichirgendwie beziffern lässt - von ohnehin verplantem Fördergeld bis zu konsumfördernden Sozialleistungen.


Gemeinsame Schulden

Vorschläge, wie die Schulden in derEuro-Zone vergemeinschaftet werden können, gibt es mittlerweile viele. Frankreich und viele Krisenländer plädieren für Euro-Bonds, also gemeinsame Anleihen aller Euro-Staaten. Bei dieser Frage hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) allerdings öffentlich so sehr festgelegt, dass sie kaum mehr einen Schwenk machen kann:Euro-Bonds schließt sie kategorisch aus. Deshalb wird nun, auch beim EU-Gipfel, über Variationen diskutiert. In dem Report zu einer Reform der Euro-Zone, den EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy den Regierungschefs vorstellen wird, tauchen zwei Vorschläge auf. "Kurzfristige Instrumente", zum Beispiel sogenannte Euro-Bills. Das sind Schuldverschreibungen von Staaten mit kurzer Laufzeit von einem Jahr. Der Vorteil: Falls ein Staat gegen die Defizitgrenzen verstößt, könnte man ihn umgehend mit Ausschluss bestrafen - anders als bei Euro-Anleihen, die zehn Jahre laufen. Eine zweite Idee - ausgerechnet vom deutschen Sachverständigenrat entwickelt - ist ein Altschuldentilgungsfonds: Die Euro-Länder sollen alle Schulden, die über den erlaubten60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, in einen Topf werfen. Für diese Altlasten haften dann alle Euro-Staaten gemeinsam. Doch Merkel gibt vor dem EU-Gipfel eine harte Linie vor: Jede Form von Schuldenvergemeinschaftung sei mit ihr nicht zu machen, betonte sie immer wieder.

+++ EU-Ratspräsident fordert Reform der Währungsunion +++

Kurzfristig könnte eine gemeinsame Haftung die Zinsen, die Krisenländer wie Italien oder Spanien bieten müssen, senken und dadurch beruhigend wirken. Doch die Vergemeinschaftung lädt zum Schuldenmachen auf Kosten der anderen Staaten ein. Und sie mindert den Reformdruck in den Krisenländern. Zudem ist sie nicht mit Grundgesetz und EU-Vertrag vereinbar.

Durchgriffsrechte

Gemeinsame Risiken erfordern nach Ansicht der Deutschen auch gemeinsame Kontrollen. Soll heißen: Die Euro-Staaten müssten sich Eingriffe in ihre Haushalte gefallen lassen. Diese von Merkel beharrlich vorgetragenen Bedingungen finden langsam Einzug in die europäische Debatte. Der EU-Ratspräsident macht auch konkrete Vorschläge: Die Staaten müssten sich von der Euro-Zone vorab eine Genehmigung holen, wenn sie mehr Schulden machen wollen, als nach den gemeinsamen Regeln erlaubt ist. Van Rompuy stellt langfristig sogar ein gemeinsames Finanzministerium der Euro-Zone in Aussicht. Vor allem die Franzosen haben sich bisher gegen stärkere Eingriffsrechte in ihren Haushalt gewehrt. Doch vor dem EU-Gipfel deutet sich ein Einlenken an.

Eine stärkere gemeinsame Kontrolle der Finanz- und Haushaltspolitik in der Euro-Zone ist überfällig. Damit würde ein Konstruktionsfehler der Währungsunion beseitigt. Das wäre ein echter Schritt nach vorne und zur Überwindung der Krise. Bisher ist das Haushaltsrecht allerdings Königsrecht aller nationalen Parlamente. Soll diese Kompetenz teilweise nach Brüssel übertragen werden, müsste zuvor das Demokratiedefizit beseitigt werden.

Bankenaufsicht

Drei Maßnahmen enthalten die Pläne für eine Bankenunion. Grundlegenddafür: eine Aufsicht für alle Institute durch eine Behörde, die bei der Europäischen Zentralbank (EZB) angesiedelt werden soll. Das könne "sicherstellen, dass die Bankenaufsicht in allen Ländern gleich effizient darin ist, das Pleiterisiko zu reduzieren", heißt es in der Tischvorlage für den EU-Gipfel, die die Präsidenten des Rats, der Kommission, der EZB und der Euro-Gruppe ausgearbeitet haben. Tatsächlich war es nun in Spanien und zuvor in Irland so, dass kriselnde Institute erst auffielen, als es für ihre Sanierung längst zu spät war. Über den Bedarf einer gemeinsamen Aufsicht herrscht Einigkeit. Die Gefahren sehen manche Notenbanker darin, dass der EZB damit eine Rolle zufiele, für die sie derzeit keine Kompetenz besitzt, ist sie doch laut Satzung vor allem für die Preisstabilität zuständig. Außerdem wäre der Beschluss, notfalls eine Bank zu schließen, hochpolitisch. Kritiker fürchten daher eine Zunahme des Einflusses der Politik auf die EZB. Zweitens sorgen sie sich, dass kleine Banken, gerade Sparkassen in Deutschland, unter die Räder kommen könnten, wenn sie wie Großbanken bilanzieren müssten. In Brüssel ist man aber kaum bereit, für die Kleinen eine Ausnahme zu machen. "Es löst das Problem nicht, nur die 25 oder 30 größten Banken zentral zu beaufsichtigen", sagt ein mit der Sache vertrauter EU-Beamter. Weder die Krisenfälle Bankia und Dexia noch die WestLB "wären dann auf dem Radar einer solchen Behörde aufgetaucht, als ihre Probleme begannen".

Aber die EZB wird noch mehr um ihre Unabhängigkeit von Finanzministern und Regierungschefs kämpfen müssen. Das kann gefährlich werden.

Einlagensicherung

Die Bankenunion soll auch eine gemeinsame Einlagensicherung beinhalten. Die nationalen Garantiesysteme könnten eine "europäische Dimension" erhalten, wie es in dem Papier von Van Rompuy heißt. Aus Sicht der Deutschen ist das äußerst heikel. Denn die Konsequenz wäre: Die deutschen Sparer haften für spanische oder italienische Banken mit. In Deutschland wird das Geld der Kunden auf Giro-, Tagesgeld- oder Sparkonten durch gesetzliche und private Einlagensicherungssysteme geschützt. Laut Gesetz bekommen sie bis zu 100 000 Euro ihrer Ersparnisse wieder, wenn ihr Finanzinstitut pleitegeht. Bei der Bankenunion könnten nun die Sicherungssysteme der Euro-Staaten kombiniert werden. Wenn die Mittel eines nationalen Einlagensicherungstopfes nicht ausreichen, müssten die anderen der Euro-Zone einspringen, sagt ein EU-Beamter. In Berlin argwöhnt mancher: Bei der Diskussion um die Bankenunion gehe es Frankreich und Südeuropäern weniger darum, durch eine gemeinsame Bankenkontrolle die europäischen Finanzplätze sicherer zu machen, als vielmehr Zugang zu den deutschen Nottöpfen zu erhalten.

Bankenfonds

Die EU-Kommission hat vor wenigen Wochen die Blaupause für einen europäischen Fonds vorgestellt, aus dem die Kosten für die Restrukturierung - und nötigenfalls Abwicklung - kriselnder Banken beglichen werden sollen. Der Vorschlag bezog sich auf nationale Fonds, gespeist aus einer Bankenabgabe: Jedes Institut zahlt ein, auch und besonders gesunde, die kranken bekommen daraus Geld - um zu vermeiden, dass erneut der Steuerzahler dafür aufkommen muss, wenn eine Bank in Not ist. Dieses System soll nun ein gemeinsames europäisches werden. Oder, analog zum Einlagensicherungsfonds, vorsehen, dass sich die Töpfe der Staaten gegenseitig aushelfen müssen, wenn es eng wird. Immerhin: Der Steuerzahler wäre dann aus der Haftung.

Umbau des Rettungsschirms

Noch ist der dauerhafte Euro-Rettungsschirm ESM nicht in Kraft getreten. Der Bundestag wird ihm erst am Freitag zustimmen. Zudem muss das Bundesverfassungsgericht noch über eine Klage entscheiden. Doch schon bevor der ESM an den Start gehen kann, wird beim EU-Gipfel über eine Änderung seiner Regeln diskutiert. So wünschen sich Frankreich, Italien und Spanien, dass der ESM künftig direkt Geld an notleidende Banken überweisen kann. Der Vorteil: Wenn das Geld nicht über die Staaten fließt, erhöht sich deren Schuldenstand nicht. Doch der ESM war als Rettungsinstrument für Länder gedacht, nicht für Banken. Die Staaten als Hilfsempfänger müssen für die Rückzahlung der Kredite geradestehen. Alles andere lädt zum Missbrauch ein. Zudem wollen die Krisenländer durch die Direkthilfen Reformauflagen umgehen. Das kann nicht im Sinne der Helfer sein. Zudem wollen viele europäische Regierungschefs, dass der ESM seinen Status als bevorzugter Gläubiger verliert. Denn das schrecke private Investoren ab, argumentieren sie. Die Änderung würde allerdings das Risiko für die Steuerzahler, mit deren Geld der ESM gefüllt wird, erhöhen.

Die Änderungen würden wohl für kurze Freude an den Finanzmärkten sorgen. Wenn der ESM leichter Geld verteilen darf, würde damit aber noch kein grundlegendes Problem in den Krisenländern gelöst.

Wirtschaftspolitik

Die EU-Staaten wollen ihre Wirtschaftspolitik besser koordinieren. In Griechenland mit seiner maroden Verwaltung könnte das helfen. Was auch gemeint sein könnte, erklärt ein EU-Beamter: Eine gemeinsame "Strategie der Wettbewerbsfähigkeit" müsse es geben. "Wir müssen darüber nachdenken, und zwar gemeinsam, welche Investitionen Europa für mehr Wachstum in jedem Mitgliedstaat braucht, um so auch strukturelle Ungleichgewichte zu reduzieren", sagt er. Die EU soll den Ländern Vorgaben machen dürfen, wie sie ihr Geld einsetzen. Hier besteht noch Diskussionsbedarf: Der Vorschlag würde die Budgethoheit nicht nur dahin gehend in Frage stellen, wie viele Schulden ein Land machen darf, sondern auch wofür es Geld ausgibt.