Immer mehr Italiener beklagen die Politik, die zähe Bürokratie oder Vetternwirtschaft. Ein Uni-Direktor empfiehlt seinem Sohn in einem offenen Brief, auszuwandern - und trifft damit einen Nerv.

Rom. Die ersten Wellen der sogenannten Gastarbeiter im deutschen Wirtschaftswunder der 50er- und 60er-Jahre haben ebenso wie "Little Italy" in Downtown Manhattan oder die riesige italienische Gemeinde Argentiniens deutlich gemacht, dass Italien seit Langem nicht nur eine Nation der Seefahrer, sondern auch der Auswanderer ist.

Im Land selbst ist die Mobilität seit Gründung der Republik ebenfalls hoch. Tausende machten sich nach dem Krieg vom "Mezzogiorno" südlich von Neapel auf, um im Norden bei Fiat in Turin in Schicht zu arbeiten. Doch heute machen sich nicht nur mehr arbeitslose Sizilianer auf den Weg, sondern pro Jahr auch 50 000 junge Akademiker, die ihr Heil im Ausland suchen.

Für diesen dramatischen Strukturwandel gibt es ein Bündel von Gründen. Sogar Italiens 70-jährige Gesangs-Ikone Milva sagte, sie denke ans Auswandern - weil Premier Silvio Berlusconi "einfach nicht intelligent" sei und "überhaupt nichts mehr versteht". Aufsehenerregender, differenzierter und ernst zu nehmender muss nun aber der Brief des Uni-Direktors Pier Luigi Celli an seinen Sohn Mattia gelten. "Mein Sohn, verlasse dieses Land!" hieß es in dem Schreiben des Generaldirektors der Privat-Universität Luiss, der allerdings nicht nur auf dem Schreibtisch seines Filius landete, der gerade seine Abschluss-Examina erfolgreich hinter sich bringt, sondern auch auf der Titelseite der oppositionellen "La Repubblica".

Nur Stunden später waren bei der Redaktion Tausende Mails zu dem Beitrag eingegangen. Denn Celli ist seit seiner Zeit als Chef des Regierungssenders RAI von 1998 bis 2001 immer noch in ganz Italien bekannt. So hat er jetzt eine Flut von Pro- und Kontra-Positionen in den neuen Blogs und Kommentarspalten der Medienwelt ausgelöst. "Fliehe vor deinem Vater!", schrieb die prominente Rechts-Politikerin Daniela Santanchè in einem Leitartikel von "Il Giornale", der Hauszeitung Berlusconis, an die Adresse des Celli-Sohnes. Die mangelnden Perspektiven, die zähe Bürokratie oder die undurchdringliche Vetternwirtschaft Italiens, die dessen Vater in seinem Brief anprangerte, sind jedenfalls nicht wirklich die italienischen Neuigkeiten, die jene heftige Zustimmung und die Wut erklären können, die ihm in vielen Kommentaren entgegenschlagen. Es ist auch nicht die mit acht Prozent höchste Arbeitslosigkeit seit 2004. Viel aufreizender ist für viele die pikante Konstellation der Korrespondenz zwischen Vater und Sohn und der larmoyante Stil, in dem hier einer der bekanntesten Karrieristen des Landes seinen Sohn nicht etwa zur engagierten Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Italien ermuntert, sondern Tipps gibt, wie auch er seine Karriere am vorteilhaftesten planen und berechnen kann. Gleichzeitig finden sich wortreiche Vorwürfe an den Premier - allerdings getarnt als private und intime familiäre Ratschläge: "Gib mir recht, dieses Land verdient dich nicht!"

Was in der hitzigen Debatte bislang noch untergeht, ist hingegen eine anrührende Eigentümlichkeit der italienischen Emigranten. Einen enorm hohen Prozentsatz von ihnen zieht es zurück nach Italien. Viele realisieren diesen Wunsch dann später auch - und so mag es wohl auch Mattia Celli einmal gehen, sofern er den väterlichen Rat überhaupt beherzigt. Denn im Übrigen sind die Rückwanderer mit ihrer Sehnsucht nach Italien ja durchaus nicht allein. In diesem Jahr verzeichnet Italien mit annähernd fünf Millionen Ausländern einen neuen Immigrations-Rekord. 2008 nahm der Zustrom - legaler! - Immigranten nach Italien um 13,4 Prozent zu. Inzwischen übertrifft ihr regulärer Anteil von 7,2 Prozent an der Bevölkerung erstmals den EU-Durchschnitt. Die neuen Italiener kommen aus China, der Ukraine, den Philippinen, aus Marokko oder Albanien - vor allem aber aus Rumänien. Für 800 000 Rumänen ist Italien ganz einfach ein Paradies.