In Hamburger Albertinen-Krankenhaus wurde das Mädchen aus Kabul am Herzen operiert. Jetzt kehrt es in seine Heimat zurück und darf dort zur Schule gehen.

Hamburg. Ich habe einen Ranzen!" Unvermittelt sprudelt es aus Beheshta heraus. Der Schulranzen ist ihr ganzer Stolz, sie muss einfach davon erzählen. Noch vor kurzer Zeit wäre ein Ranzen die geringste Sorge der Siebenjährigen gewesen. Sie hatte nur eine geringe Chance zu überleben. Beheshta war 2008 als schwer herzkrankes Kind aus Kabul nach Hamburg gekommen. Das Abendblatt hat ihren Weg seither begleitet. Ein Leben in zwei verschiedenen Welten.

Katinger Watt, ein schöner Sommertag in diesem August. Leichter Wind wirft die Wellen an den Strand. Ein zartes, dunkelhaariges Mädchen tobt mit seinen Geschwistern auf Zeit im Sand der Nordseeküste. Nur noch wenige Tage, dann geht es für die sechs Kinder der Familie Rieß zurück in die Schule. Beheshta steht die weiteste Reise bevor. Sie muss Ende August zurück nach Kabul. In ein krisengeschütteltes Land, in dem der Terror eine alltägliche Bedrohung ist. Auch für Kinder. In diesem Moment, in dem sie im Sand spielt, die kreischenden Möwen beobachtet und sich leckere Kirschen schmecken lässt, ist Kabul noch ganz weit weg.

Im Februar 2008 war die kleine Afghanin mit der Hamburger "Herzbrücke" zum ersten Mal nach Hamburg gekommen. Frühmorgens hatte sie mit 66 anderen, lebensgefährlich erkrankten oder durch Minen und Feuerstellen schwer verletzten Kindern am Rande des Internationalen Flughafens in Kabul auf das Flugzeug nach Hamburg gewartet. Sie hatte in der Kälte des winterlichen Hindukusch andere Kinder aus der gerade gelandeten Boeing 737-700 der Linie "Hamburg International" steigen sehen, die fröhlich in ihre Heimat zurückkehrten - und vor allem geheilt. Sie war dann ängstlich und mit großen, fragenden Augen von fremden Menschen an Bord gebracht worden. Zum ersten Mal musste sie ihre Familie, ihre Stadt und ihr Land verlassen. Und damit auch ihr bisheriges Leben.

Dr. Friedrich-Christian Rieß (53), Privatdozent und Chefarzt der Abteilung Herzchirurgie im Albertinen-Krankenhaus in Hamburg, hatte sich noch im Flugzeug vorsichtig bemüht, Kontakt zu dem verschüchterten Mädchen aufzunehmen. Er würde nicht nur so bald wie möglich das Loch in der Kammerscheidewand von Beheshtas Herzens operieren, das von einem Mitglied der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan diagnostiziert worden war, dort jedoch nicht behandelt werden konnte. Er und seine Frau Annette (47) würden das Mädchen während seines Aufenthalts in Deutschland auch bei sich zu Hause aufnehmen.

Die Annäherung im Flugzeug war nicht einfach. Beheshta begegnete den Ärzten und Pflegern an Bord skeptisch, beinah ablehnend. Ihre körperliche Schwäche hatte ihr Leben in Kabul schwierig gemacht. Sie forderte mehr Aufmerksamkeit und wurde offensichtlich von ihren Eltern nicht so akzeptiert wie ihre beiden jüngeren Brüder. Die meiste Zeit hatte sie mit einem Onkel verbracht, den sie sehr liebte, erfuhr der Arzt später aus Telefonaten mit der Familie. Und dass Beheshta "schon immer ein schwieriges Kind" gewesen sei. Auf dem 5100 Kilometer langen Flug machte sich Rieß einen ersten Eindruck. Nur zögerlich ließ Beheshta etwas Nähe zu - während er ihr Fotos von Feldern und Pferden in einem Werbeprospekt zeigte.

Beheshta musste eine neue Welt kennenlernen. Fremde Menschen. Eine andere Sprache. Völlig andere Kultur. Unbekannte Gebräuche und Gerüche. Das Mädchen kommt aus einer Mittelstandsfamilie im Norden Kabuls, es lebt mit Vater, Mutter, Großvater, Onkel und zwei Brüdern in einem einzigen Raum. Vielleicht war die Umstellung zu viel Stress für ein krankes Kind. Am Anfang riss Beheshta sich büschelweise Haare aus und zerkratzte ihr Gesicht. "Dann war sie wie in Trance", sagt Annette Rieß, Gastmutter und Musikpädagogin. Alte Narben belegen, dass das schon viele Jahre so ging. Erst nach der Herz-Operation im Albertinen-Krankenhaus, als der Körper zu heilen beginnt, wurde auch ihre Psyche stabiler. "Dabei war es sicher ein Vorteil, dass wir so viele Kinder haben, in deren soziales Netzwerk sie sich einordnen konnte und musste", sagt Annette Rieß.

Beheshta blühte auf. Sie tanzt im Wohnzimmer mit ihren großen Gastschwestern Janika und Juliane, damals 17 und 15 Jahre alt, wenn Popmusik läuft. Sie tobt mit dem achtjährigen Jonathan durch den Garten, sie freut sich mit den anderen kleinen Patienten aus Afghanistan über einen gemeinsamen Ausflug in Hagenbecks Tierpark. Und sie liebt das Ritual, abends mit der fünfjährigen Charlotte Sandmännchen zu gucken, zu essen, zu baden und die Zähne zu putzen, bevor es ins Bett geht. "Jeden Tag entdeckte Beheshta damals etwas Neues", erzählt Annette Rieß. Aus dem kranken, verschlossenen Kind wurde ein fröhliches Mädchen, das sein neues Leben aufsaugt.

Doch allen war klar, dass Beheshta nach Afghanistan zurückkehren musste. "Wenn die Kinder geheilt sind, gibt es keinen Grund, sie länger hierzubehalten", sagt Friedrich-Christian Rieß. "Sie sollen ein normales Leben führen können - in ihrer Heimat. Vor und nach der Operation brauchen sie die Geborgenheit einer Gastfamilie. Aber sie dürfen nicht von ihrem Zuhause entwurzelt werden."

Tränen flossen, nicht nur bei ihr, als Beheshta im Juni 2008 die Rückreise in ihre Heimat antrat. Dass es kein Abschied für immer wurde, ahnte Familie Rieß damals nicht. Doch als sie über befreundete Ärzte und die Betreuer der Organisation "Kinder brauchen uns" (KBU, siehe Kasten) in Kabul erfuhren, dass der körperliche Zustand des Mädchens weiterhin kritisch ist, entschied sich Rieß, Beheshta im Januar 2009 mit einem weiteren Hilfsflug erneut nach Hamburg zu holen. Die damals Sechsjährige wog nur 10,5 Kilogramm und war für ihr Alter viel zu klein.

"Viele Kollegen haben sie hier kostenlos untersucht. So bekamen wir die richtige Diagnose", sagt Friedrich-Christian Rieß. Für den Mediziner war das Ergebnis weniger schockierend als für Beheshtas Eltern: Das Mädchen ist kleinwüchsig und wird niemals größer als 1,45 Meter werden. Bei einem Besuch Ende Mai in Kabul lernte Rieß Beheshtas Eltern kennen und konnte mit ihnen über die Lebensperspektive ihrer Tochter sprechen. Doch ein anderes Thema blieb tabu - aus Gründen der Höflichkeit: "Die Eltern sind Cousin und Cousine. Ehen unter Verwandten sind in Afghanistan immer noch häufig. Das verursacht medizinische Probleme." Der Arzt unterstützt eine Forderung, die KBU jetzt an die afghanische Regierung gestellt hat: Ehen unter Verwandten gesetzlich zu verbieten. Künftigen Generationen sollen körperliche Leiden, wie sie Beheshta erlebt hat, erspart bleiben.

Trotz der heiklen Diagnose war die Dankbarkeit der Familie überwältigend. Beheshtas Vater, der als Hilfskraft in einem Eisladen arbeitet, wollte den Gast aus Deutschland unbedingt auf einen frisch gepressten Saft und ein Eis einladen. Ein Luxus, den er sich und seiner Familie so nie leisten könnte. "Und der Großvater wollte mich gar nicht mehr loslassen", sagt Rieß. Den alten Mann liebt das Mädchen. Die Gründe sind ebenso banal wie erschreckend. "Papa schlägt Mama, Mama schlägt mich, aber Opa schlägt nie", hat Beheshta gesagt. Der Großvater unterstützt eine Idee, die in der Familie ohne die Kontakte nach Deutschland nie ein Thema gewesen wäre: Seine geliebte "Bishi" soll zur Schule gehen.

KBU unterhält in Kabul das Steinhaus, ein Internat. Annette Rieß sagt: "Niemand aus der Familie könnte Beheshta täglich zur Schule bringen, aber sie kann dort in der Woche leben und kommt an den Wochenenden nach Hause." Die deutschen Gasteltern haben sich entschieden, Beheshtas Schulausbildung zu finanzieren. Als der Großvater seine Unterstützung versprach, "war alles geregelt", sagt Friedrich-Christian Rieß.

Dem Norderstedter Ehepaar und seiner Familie wird der Abschied von Beheshta diesmal deutlich leichter fallen. Ihre Hilfe ist jetzt nicht mehr nur medizinischer Art, sie ist nachhaltig.

Beheshta hat derweil ihre ganz eigene Logik entwickelt. Vor einem Jahr, vor der ersten Rückreise nach Afghanistan, hatte sie klipp und klar erklärt, dass sie zwar nach Kabul zurückwolle - "aber hier weiter schlafen". Und diesmal, im Bewusstsein, "ein letztes Mal" Deutschland gewesen zu sein, und mit der Erfahrung eines Kindergartens, hat sie sich für ihre Rückkehr nach Hause klare Prioritäten gesetzt. "Ich werde in Kabul zur Schule gehen", sagt sie in ihrem nahezu perfekten Deutsch und schaut auf ihren Ranzen. "Und ich werde in der Schule ein eigenes Bett haben", freut sie sich. Das ist alles, was zählt.