Gudrun Wacker, China-Expertin der Stiftung für Politik und Wissenschaft in Berlin, analysiert die Vorgänge in Xinkiang.

Abendblatt:

Offiziell proklamiert Chinas Regierung das Modell einer "harmonischen Gesellschaft", die das Gefälle zwischen Arm und Reich abbauen und auch Minderheiten einbeziehen soll. Das ist offenbar eine Illusion- siehe die Unruhen in Tibet 2008 und jetzt in Sinkiang.

Wacker:

Das Problem ist, dass Chinas Entwicklungsstrategie in seinen Minderheiten-Regionen offenkundig nicht funktioniert. China hat bisher eine Doppelstrategie gefahren: einerseits wirtschaftliche Entwicklung, andererseits rigoroses Durchgreifen gegenüber allem, was sich außerhalb sanktionierter Kanäle abspielt. Aber die wirtschaftliche Entwicklung schafft in diesen Regionen neues Konfliktpotenzial.

Abendblatt:

Weil dann immer mehr Chinesen dorthin ziehen und die besseren Jobs bekommen?

Wacker:

Ja. Die Eisenbahnen und die neuen Straßen, die nach Tibet und nach Sinkiang gebaut wurden - das alles dient der besseren wirtschaftlichen Einbindung. Aber die Frage ist: Wer hat welchen Anteil an dem neu entstandenen Reichtum? Wenn die Minderheiten das Gefühl haben, dass die Chinesen den Wohlstand abschöpfen und sie selbst nur einen Kebab-Stand aufmachen dürfen, dann wächst Unmut. Wenn ich mich an die Bilder vom März 2008 in Lhasa erinnere: Es sind ja damals nicht nur Mönche auf die Straße gegangen, sondern es waren hauptsächlich frustrierte, wütende junge Tibeter, die sich in ihrer eigenen autonomen Region marginalisiert fühlen. Und das ist ein Ergebnis dieser Entwicklungsstrategie.