Der Künstler Vann Nath hat ein berüchtigtes Gefängnis der Roten Khmer in Kambodscha überlebt - weil er für das Regime malte. 30 Jahre später steht er im Prozess seinem Schergen gegenüber.

Eigentlich hatten die Roten Khmer Vann Nath schon alles genommen. Vom Maler hatten sie ihn zum Feldarbeiter gemacht, vom Bürger zum Sklaven - aber das war harmlos im Vergleich zu dem, was er noch erleiden sollte. An einem Tag im Dezember 1977 stand plötzlich eines der Kommandos der Roten Khmer mit Sturmgewehren vor ihm. "Du hast gegen die Werte von Angka verstoßen", sagte der Anführer kurz. Angka, die "Organisation", war der Deckname der Kommunistischen Partei, die Kambodscha zwischen 1975 und 1979 beherrschte. Vann Nath verschwand im berüchtigten Gefängnis S-21.

Er wusste: Niemand, den die Roten Khmer auf diese Weise abgeholt hatten, war je zurückgekommen. Später erfuhr er, dass nur zwölf von 13 000 Gefangenen Folter und Qualen überlebt hatten.

32 Jahre später, ein Gerichtssaal in Phnom Penh. Vann Nath, ein großer Mann mit weißem Hemd und lichtem weißen Haar, nimmt Platz im Zeugenstand. Hinter ihm sitzen, abgeschirmt durch eine Glaswand, etwa 100 Zuschauer, gegenüber die Richter. Rechts sitzt der Angeklagte, Kaing Guek Eav, den alle "Duch" nennen. Er war der Leiter des Gefängnisses.

Der Tag, auf den Vann Nath 30 Jahre gewartet hat, ist gekommen. Er wird als Zeuge gegen Duch aussagen, im ersten Prozess gegen ehemalige Führer der Roten Khmer.

"Ich habe meine Würde verloren", sagt Vann Nath. Er blickt zu Boden, muss Tränen unterdrücken. Dann sagt er Sätze wie "Ich dachte sogar, Menschenfleisch wäre ein gutes Mahl." Stundenlang erzählt er seine Leidensgeschichte. Duch hört zu.

Es ist schwer vorstellbar, was der Maler durchgemacht hat. In seiner Galerie in Phnom Penh bekommt der Schrecken ein Bild. Auf einem Gemälde sind die Schergen des Regimes zu sehen, wie sie einen Mann mit nackten Füßen und leerem Blick abführen. Vann Nath hat die Szene mit Acrylfarbe auf Leinwand gemalt - und alle weiteren Stationen seines Leidenswegs in chronologischer Reihenfolge.

"Zu welchem Netzwerk gehörst du?", fragten die Soldaten. Vann Nath verstand nicht, sie brüllten ihn an, legten ihm Kabel auf die nackte Haut. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Stromschlag, er schrie vor Schmerzen. "Arbeitest du für die CIA?" Vann Nath verneinte, er hatte vom US-Auslandsgeheimdienst noch nie gehört. Und bekam einen weiteren Stromschlag. Schließlich gab er zu, was er nie getan hatte, unterschrieb ein Geständnis und wurde ins Gefängnis S-21 verlegt.

Südlich des Zentrums der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh liegt heute die Gedenkstätte Tuol Sleng, eine ehemalige Schule, die zum Gefängnis S-21 zweckentfremdet wurde. Die Wärter hängten Gefangene an den Fußknöcheln an eine Reckstange und versenkten ihre Köpfe minutenlang in Wasserkübeln.

Im Januar 1978 kam Vann Nath nach Tuol Sleng. Die beiden Fotos, die bei seiner Ankunft gemacht wurden, hängen heute in seiner Galerie. Ein Mann mit Schnauzbart, mager, Angst in den Augen. Vann Nath sah 30 Männer auf dem nackten Boden liegen, jeweils zu fünft mit den Füßen aneinandergekettet, abgemagert und leichenblass. Die Mahlzeiten bestanden aus zwei Esslöffeln Reissuppe morgens und abends. Fast jeden Tag starb jemand in der Zelle, tagelang lag Vann Nath neben Leichen.

Die Roten Khmer mordeten bestialisch.

Eines Tages dachte Vann Nath, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Gefängnischef Duch fragte: "Wie lange hast du als Maler gearbeitet?" "Zehn Jahre", sagte Vann Nath. "Kannst du ein Bild malen?", fragte Duch. Vann Nath sagte: "Ich versuche es." Er durfte sich satt essen, dann wurde er in einen Raum geführt, wo Leinwände und Farben standen. Duch gab ihm das Foto eines Mannes, den er malen sollte. Vann Nath erfuhr erst später, wer es war: Pol Pot, der KP-Chef, unter dessen Herrschaft 1,7 Millionen Menschen getötet wurden.

Zitternd begann Vann Nath mit dem Gemälde, Duch schaute zu. Vann Nath malte um sein Leben. Das erste Porträt misslang. Duch schüttelte den Kopf und gab ihm noch eine Chance. Das zweite Gemälde rettete ihn - fürs Erste. Vann Nath durfte in dem Raum schlafen, in dem er malte, er bekam mehr zu essen. Trotzdem wusste er, dass sein Leben mit jedem Bild zu Ende sein konnte. Andere Maler waren schon ermordet worden. Von draußen hörte er die Schreie der Gefolterten. Wenn die Sonne untergegangen war, lauschte er dem An- und Abfahren der Lastwagen. Mit ihnen wurden nachts Häftlinge ins 17 Kilometer entfernte Choeung Ek gebracht.

Heute ist Choeung Ek ein Mahnmal, das bekannteste von mehr als 300 "Killing Fields" der Roten Khmer. In einem weißen Turm liegen hinter Glas 5000 menschliche Schädel, wenige Meter entfernt eine blaue Hose, die Gefangenenkleidung. Daneben glänzen Knochensplitter und Zähne auf dem Boden. Jeder Regenguss fördert neue Teile zutage, die einmal zu Menschen gehörten. Tausende Tote liegen wohl noch in dieser Erde. Jede Nacht wurden 200 Häftlinge aus Tuol Sleng hierher gebracht und bei lauter Tanzmusik ermordet.

Am 7. Januar 1979, während heftiger Gefechte zwischen den Roten Khmern und der vietnamesischen Armee, nutzte Vann Nath den Wirrwarr zur Flucht.

Das aktuelle Tribunal gegen Führungspersonal der Roten Khmer, initiiert von den Vereinten Nationen, soll in Kambodscha als Vorbild für rechtsstaatliche Strafverfolgung dienen. Vann Nath sagt am Ende seiner Zeugenaussage über seine Haft im Gefängnis S-21: "Ich habe versucht zu vergessen, aber ich kann nicht vergessen. Es ist mein Privileg, dass ich heute noch hier stehen kann. Ich möchte Gerechtigkeit für alle, die ermordet wurden."

Aber die Verfahren ziehen sich hin. Nach dem Beschluss im Jahr 2003 dauerte es bis Februar 2009, ehe die erste Verhandlung begann. Zumindest gegen den heute 66-jährigen Duch wird in diesem Jahr ein Urteil erwartet.

Vann Nath blickt traurig: "Ich habe auf Gerechtigkeit gehofft", sagt er. "Aber ich bin erschöpft. Soll das Verfahren dauern, bis alle Verantwortlichen tot sind?" Er steht zwischen den Gemälden, die sein Leiden abbilden, Verhaftung, Folter, Hunger. Ganz hinten in einer Ecke der Galerie hängt ein einziges Bild, das nichts mit seiner Haft zu tun hat. Es zeigt einen Wasserfall, flankiert von Bäumen in sattem Grün vor einem blauen Himmel. Die Natur, das Leben - das hätten vielleicht die Themen seines Werks werden können. Aber Vann Nath konnte es sich nicht aussuchen.