Der geplante Ilisu-Staudamm gehört zum gigantischen Südost-Anatolien-Projekt GAP (Güneydogu Anadolu Projesi) der türkischen Regierung.

Hamburg/Ankara/Berlin. Die Region am uralten Strom Tigris zählt zur Wiege der Zivilisation. Vor zehn- bis zwölftausend Jahren bereits siedelten hier Menschen und entwickelten frühe urbane Gesellschaften, die vermutlich ganz entscheidenden Einfluss auf die späteren Hochkulturen Mesopotamiens - wie die der Sumerer - hatten.

Wie viele archäologische Schätze zum Beispiel im türkischen Ilisu-Gebiet noch auf Entdeckung harren, kann nur vermutet werden. Nur 7000 von 37 000 Hektar sind je untersucht worden. Allein dort wurden auf Anhieb 208 archäologische Stätten gefunden.

Im Ilisu-Gebiet liegt auch die Stadt Hasankeyf. Der türkische Name bedeutet "Hasans Freude" und ist eine Verballhornung des arabischen "Hisn Keyfa", was Felsenburg heißt. Hasankeyf ist ein archäologisches Juwel - zwanzig Kulturen seit der Jungsteinzeit können hier identifiziert werden. Assyrer, Römer, Byzantiner, Seldschuken, Omayaden und andere hinterließen ihre Zeugnisse und Spuren. Es gibt Reste von 300 Kirchen und Moscheen - darunter die Ruinen der Rizq-Moschee aus dem Jahre 1409 - sowie eine herrliche, 800 Jahre alte Brücke.

Doch wer Hasankeyf in wenigen Jahren besichtigen will, muss wohl einen Taucheranzug mitnehmen. Die alte Stadt mit ihrer ganzen archäologischen Pracht wird auf dem Grund eines riesigen Stausees liegen und vom Wasser unwiederbringlich vernichtet werden.

Der geplante Ilisu-Staudamm, heftig bekämpft von Archäologen, Umweltschützern und kurdischen Anwohnern, gehört zum gigantischen Südost-Anatolien-Projekt GAP (Güneydogu Anadolu Projesi) der türkischen Regierung. Es ist das gewaltigste Wasserkraftwerks-Projekt der Welt - mit insgesamt 22 Staudämmen in den Flüssen Euphrat und Tigris, um fast 18 000 Quadratkilometer Land zu bewässern. Die 32-Milliarden-Dollar-Unternehmung soll 2020 abgeschlossen sein.

Die meisten Dämme sind schon gebaut - Ilisu aber noch nicht. 65 000 Menschen in mehr als 100 Dörfern müssen zunächst dafür umgesiedelt werden.

Es geht um die Beherrschung des Wassers im Mittleren Osten - deshalb sind die Türken so versessen auf den Bau von Staudämmen. Vor allem wegen der Kontrolle des überlebenswichtigen Elements gegenüber den Nachbarländern. Wer das Wasser kontrolliert, kontrolliert die Macht. Geografisch liegt der größte Teil von Euphrat und Tigris in der Türkei. Wird hier das Wasser gestaut und der Hahn zugedreht, bekommen Syrien, Irak und Iran weniger davon ab. Besonders dann, wenn ein Konflikt vorherrscht.

Was bisher nur inoffiziell bekannt wurde, wurde gestern offiziell: Die Bundesregierung zieht sich aus dem Projekt Ilisu zurück und wird es nicht mit Kreditbürgschaften finanzieren. Damit nehmen auch die Regierungen von Österreich und Schweiz ihre Hermesbürgschaften zurück. Diese Entscheidungen kommen einem exportwirtschaftlichen Erdbeben gleich: Erstmals werden bestehende Exportverträge aufgekündigt - aus humanitären und ökologischen Gründen.

Aus Regierungskreisen in Berlin hatte es zuvor schon geheißen, die türkische Regierung sei weit davon entfernt, die vereinbarten Auflagen und Standards zu erfüllen. So sei das Verfahren zur Enteignung und Entschädigung der betroffenen Menschen völlig "intransparent". Und die Entschädigungssummen für Zwangsenteignete seien "Spottpreise", hieß es dazu vor Ort. Auch seien Planung und Finanzierung von zwei zugesagten Abwasserkläranlagen nicht vorgelegt worden.

Deutschland, Österreich und die Schweiz wollten das eine Milliarde Euro teure Ilisu-Staudamm-Projekt ursprünglich mit 450 Millionen Euro absichern - unter strengen Auflagen zum Schutz von Umwelt und Kultur. 190 Millionen entfielen auf Deutschland. Im Dezember hatte Berlin bereits die Bauverträge suspendiert. "Unsere kritische Haltung zu Ilisu war von Anfang an richtig", sagte Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gestern in Berlin. Auch die Grünen freuten sich über die Entscheidung: Die Beteiligung an dem Projekt mit der Zerstörung einmaliger Kunstschätze und der Verletzung sozialer und ökologischer Standards sei "ein Armutszeugnis" für die Bundesregierung gewesen, sagten die Parteivorsitzenden Cem Özdemir und Claudia Roth.

"Ilisu ist das derzeit prestigeträchtigste Staudamm-Projekt der Türkei. Wenn sich Deutschland, Schweiz und Österreich jetzt zurückziehen, wird das ungeahnte Signalwirkung für alle weiteren geplanten Staudamm-Projekte des Landes haben", gab Ulrich Eichelmann von der Stopp-Ilisu-Kampagne dazu in Wien zu bedenken. "Die türkische Wirtschaft plant 700 weitere Staudämme. Doch wenn die drei Regierungen ihr Engagement kippen, ist die Reputation des Projekts auch für andere Investoren ruiniert. Das gibt einen Domino-Effekt auf alle anderen Staudamm-Pläne." Und nicht nur auf die. Auch die türkische Gesellschaft wird der Konflikt um den Staudamm-Bau verändern. Er tut es heute schon. Umfragen nach waren bereits vor zwei Jahren mehr als 80 Prozent der Bewohner in der Region gegen den Bau des Staudamms. Heute sind es noch mehr, und sie leben nicht nur in Südost-Anatolien, sondern in den Städten. Istanbul, Izmir, Ankara. Es regt sich ziviler, demokratischer Protest, die erste ökologische Bewegung der Türkei formiert sich.

Und sie bekommt prominente Unterstützung: Viele türkische Künstler und Intellektuelle, die schon in der Vergangenheit mehrmals mit dem türkischen Staat aneinandergeraten sind, protestieren auch gegen das Staudamm-Projekt. Der berühmte Schriftsteller Yasar Kemal unterstützt derzeit eine Initiative, die das Tigris-Tal bei Hasankeyf in die Liste der Orte des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen wissen will. Kemal, selbst kurdischer Herkunft, sagte der türkischen Zeitung "Milliyet": "Eine Gesellschaft, die ihre Natur und ihre Geschichte vernichtet, wird in der Zukunft nicht bestehen können. In Hasankeyf sind Natur und Geschichte eng miteinander verbunden, man kann sie nicht trennen. Es ist nicht möglich, Hasankeyf an einem anderen Ort wieder aufzubauen. Das käme einer Vernichtung eines Menschheitserbes gleich."

Auch Popstar Tarkan setzt sich für den Erhalt der antiken Stadt ein. Er reist mit Naturschützern in die Region, beteiligt sich an Kundgebungen und Protestaktionen, hat einen Protestbrief an Präsident Abdullah Gül geschrieben und, was er wohl am besten kann, ein Lied für Hasankeyf und alle anderen von Zerstörung bedrohten Stätten der Menschheit verfasst. Darin heißt es: "Unser Land, unsere Erde wird für immer zerstört. Unser Haus, unser Nest, unsere einzige Feuerstelle gleitet uns aus der Hand. Wach auf. Leg deine Hand auf dein Herz, bevor es zu spät ist."

Neben Yasar Kemal und Tarkan haben weitere Personen des öffentlichen Lebens in der Türkei ihre Unterschrift unter den Aufruf gesetzt, darunter Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, Sängerin Sezen Aksu oder der Musiker Orhan Gencebay. Fast 20 000 Menschen haben die Initiative schon unterschrieben.

Auch Exil-Türken ist der Bau des Staudamms nicht egal: Fatih Akin will ab August ein Protest-Musikvideo mit Sängerin Aynur in der Region drehen. Noch zeigt sich die türkische Regierung unbeeindruckt von der Protestbewegung, die auch eine Demokratiebewegung der modernen Türkei ist.

Umweltminister Erol Veysel sagte kürzlich, dass die Türkei den Bau des Staudamms auf eigene Faust durchführen werde, falls die Kredite nicht genehmigt würden. "Wir haben das Geld und die Fähigkeiten, ihn zu bauen", ist er sich sicher. Und gestern kündigte Ankara tatsächlich an, auch ohne Kredite bauen zu wollen. Für die Grünen Roth und Özdemir ist dies "besorgniserregend". Der Kampf um Hasankeyf geht weiter.