Das schwere Zugunglück von Viareggio ist ein Fanal für Italien. Das Dolce Vita ist vorbei. Die Menschen beginnen endlich, die Dauerkrise ihres Landes zu erkennen, und hadern sogar mit ihrem bislang nicht antastbaren Ministerpräsidenten. Die größte Sorge: Wird Italien unsexy? Beobachtungen von Andreas Englisch

Es ist kurz nach Mitternacht, als der Güterzug mit Flüssiggas im Auftrag der österreichischen Firma GATX in den Bahnhof von Viareggio fährt. Die Achse des ersten Waggons bricht, der Waggon entgleist, das Gas tritt aus, ein Funke besorgt den Rest. Die Explosion reißt fünf Häuser am Bahnhof weg. Ein Jugendlicher fährt mit seiner Vespa in die Flammenwand. Die Flammen verwandeln ihn in eine brennende Fackel. Als die Leiche geborgen wird, trägt sie noch den geschmolzenen Helm auf dem Kopf.

Als an diesem 30. Juni die Sonne aufgeht und das Desaster am Bahnhof mit grellem Licht überschüttet, ist ein Mann wieder im Fernsehen zu sehen: Guido Bertolaso, der seinem Land eigentlich nur einen Gefallen tun kann: zu verschwinden - und zwar auf Nimmerwiedersehen.

Bertolaso flimmerte eindeutig zu häufig über die Sender in den vergangenen Monaten, dabei kann er eigentlich gar nichts dafür. Der Chef des Zivil- und Katastrophenschutzes hat nun einmal den Job, seinem Land schlechte Nachrichten zu überbringen.

Seit dem 6. April, seit der Nacht, als das Erdbeben von L'Aquila 299 Menschen in den Tod riss, mag niemand mehr Bertolaso sehen. Wenn dieser Mann schon am frühen Tag erscheint, bedeutet dies: wieder ein schlechter Tag für Italien. Und die schlechten Tage häufen sich in den letzten Monaten. Das Land ist deprimiert. Italien, die fröhliche Schöne des Südens, lässt die Flügel hängen.

Und da gibt es noch jemanden, der zu den grauenhaften Bildern von Viareggio von Sendung zu Sendung hetzt, um klarzustellen, abzuwiegeln, deutlich zu machen, dass alles ganz anders ist. Es ist Paolo Bonaiuti, der Sprecher von Silvio Berlusconi. Übrigens auch jemand, den die Italiener nur noch schwer ertragen können. Die Anhänger Berlusconis wissen nur zu gut, dass Paolo Bonaiuti nur dann vor die Fernsehkameras muss, wenn sein Chef ernste Probleme hat.

Und die hat er ganz massiv. Seit dem jüngsten Sex-Skandal soll Berlusconi erheblich an Vertrauen eingebüßt haben, immerhin zwölf Prozent der Wähler sollen sich von ihm und seiner Politik abgewandt haben, vor allem - was ihn treffen wird - Frauen. Berlusconis Gegner können mit den Rechtfertigungen seines Sprechers ohnehin nichts mehr anfangen.

Italien erlebt eine Krise. Die Schicksalsschläge von L'Aquila und jetzt von Viareggio, die Wirtschaftskrise sowie der Dauerärger um die Skandale des Ministerpräsidenten sorgen dafür, dass das Land einen epochalen Wandel erfährt und eine völlig neue Erfahrung machen muss: Bella Italia ist zum ersten Mal der ganze Ärger nicht egal. Viele Italiener fühlen sich ohnmächtig. Und nicht einmal mehr auf die Fußballer ist noch Verlass. Die Schönspieler scheiterten zuletzt gleich zweimal - beim U 21-Nachwuchs sogar gegen den sportlichen Erzfeind Deutschland.

Eigentlich durchlebt das Land eine Dauerkrise, seit es die Republik Italien gibt - nur hat das bisher niemanden gekümmert. Zwischen 1945 und dem Jahr 2000 verschliss Italien 56 Regierungen, das ist einsamer Weltrekord. Es gibt keine politische Ausnahmesituation, die es in Italien nicht schon gegeben hat: Ein Ministerpräsident, der im Verdacht steht, oberster Boss der Mafia zu sein? Bitteschön, das gab es doch längst, siehe den Fall des Vorvorvorgängers Giulio Andreotti. Einen Ministerpräsidenten, der vor der Polizei des eigenen Landes fliehen muss, weil er kofferweise Schmiergeld bunkerte? Auch das gab es schon, siehe den Fall Bettino Craxi, der schließlich im Exil in Tunesien starb.

Vielleicht deshalb hatte Italien den unglaublichen politischen Aufstieg des Silvio Berlusconis bislang weit weniger kritisch betrachtet als der Rest Europas. Das Europäische Parlament wurde nicht müde, sich darüber zu wundern, dass ein Mann wie Silvio Berlusconi schon dreimal zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, obwohl er sich wegen Korruption vor Gericht verantworten musste. Dass dieser Mann zudem noch ein Medien-Zar ist, der eine gewaltige Kontrolle über Presse und elektronische Medien besitzt, dass er Frauen gegen Bargeld wie Ware anschleppen lässt, erregte in Italien zwar Interesse, aber nur ein beschränktes. Denn die Italiener sprachen bisher nicht von einer politischen Krise, sondern eher davon, dass das politisch Unnormale zur Normalität wurde. So war es ein völlig normaler Vorgang, als sich eine der vielen Regierungen Giulio Andreottis vom 18. Februar 1972 bis zum 26. Februar 1972 nicht einmal zehn Tage im Amt halten konnte. Krise? Pah!

Italien war nach dem Zweiten Weltkrieg von einem Agrarland zu einem der stärksten Industriestaaten der Welt aufgestiegen. Genies wie Luciano Benetton mit seiner Bekleidungsindustrie, die Familie Agnelli mit ihrem Fiat 500, der extravagante Gianni Versace mit seinem Mode-Imperium - sie alle bauten Italiens Wirtschaft in einem rasanten Tempo auf. Dass sie ihre Erfolge ohne große Unterstützung der Regierung schafften, war für den Italiener uninteressant.

Anders als Deutschland war Italien nie darauf bedacht zu funktionieren. Italien wollte sexy sein, und das klappte wunderbar. Heute trinkt ganz Europa "Latte macchiato", isst "Ciabatta-Brot", verlangt zum Aperitif "Aperol", sitzt in der Kaffeebar von Lavazza oder Segafredo. Italienischer Lifestyle war der bisher wichtigste Exportartikel des Landes. Und der bestand vor allem aus einem: Aus dem Selbstbewusstsein, dass in Italien einfach alles besser, schöner, spannender ist. Und die Welt, nicht nur die reiselustigen Deutschen, glaubte das gern. Die New Yorkerinnen pilgerten zu einem Mailänder mit Namen Giorgio Armani, die superreichen Herren überwiesen ihr Erspartes gern auf ein Konto in Maranello bei Modena, um ein Automobil mit dem Schriftzug Ferrari zu erwerben.

Doch auf einmal ist das Selbstbewusstsein weg. Das Dolce Vita ist vorbei. Italien entdeckt auf einmal, dass Krisen nicht nur dazu da sind, um sie zu ignorieren, sondern dass man auch unter ihnen leiden kann. "Italien ist nicht mehr sexy." Das sagte eine, die es wissen muss: Carla Bruni, derzeit Gattin des französischen Ministerpräsidenten Nicolas Sarkozy. Sie sprach aus, was sie empfinde, wenn sie an Italien denke. Das sei Scham, Scham über einen Ministerpräsidenten, der Minderjährige in seine Villen bringen lässt, Erdbebenopfer als Campingtouristen verhöhnt und nach dem Wahlsieg von Barack Obama von einem "stark gebräunten Mann" spricht.

Das Geheimnis des Dolce Vita bestand bisher darin, dass man einfach daran glaubte, auch wenn es gar kein Dolce Vita gab. Schon der Erfinder des Begriffs für die Filmsprache, Oscar-Preisträger Federico Fellini, der seinen Film "Dolce Vita", das süße Leben, nannte, wurde nie müde zu betonen, dass er alles nur erfunden habe. Den Schauplatz des Dolce Vita, die Via Veneto in Rom, hat es so nie gegeben. Fellini ließ sie nur nachbauen, weil ihm schon damals auffiel, dass die Via Veneto war, was sie bis heute ist: Eine der wenigen hässlichen, breiten Straßen von Rom, an denen Urlauber seit Jahrzehnten vergeblich versuchen, einen Hauch eben dieses Dolce Vita zu erhaschen.

Und es ist tatsächlich eingetreten, was Fellini prophezeite: Die Straße sollte sich niemals mehr von ihm erholen. Dass jenes süße Leben nie wirklich existierte, hielt Italien aber nicht davon ab, fest daran zu glauben. Italienische Unternehmer wie Riccardo Illy (Illy Café) erzählen immer wieder mit großer Genugtuung, wie fassungslos das europäische Ausland darauf reagierte, dass tatsächlich Unternehmer mit einem von einer Dauerkrise geschüttelten politischen System leben können. In Deutschland, Frankreich oder England konnte sich kein Mensch auch nur ansatzweise vorstellen, dass den Italienern die Dauerkrise einfach gleichgültig war.

Roms Parlament hatte nie für den Aufbau einer angemessenen Infrastruktur im Nordwesten des Landes gesorgt. Das änderte aber nichts daran, dass diese Region trotz der Wirtschaftskrise zu den wichtigsten Boom-Regionen Europas gehört. Arbeitslosigkeit ist da ein Fremdwort, Vollbeschäftigung normal.

Das Geheimnis all dessen lag schlicht und einfach daran, so viel Vertrauen in Bella Italia zu haben, dass man alle Schwierigkeiten schließlich zu überwinden glaubte, um das Dolce Vita zu genießen. Fast schon ein religiöses Glaubensbekenntnis. Katastrophen wie das Erdbeben von L'Aquila gab es auch früher schon, sogar weit schlimmere. Bei dem Erdbeben von Irpina am 23. November 1980 kamen 4689 Menschen ums Leben, in L'Aquila waren es 299.

Doch diesmal ist alles anders, diesmal wälzt sich das Land in Selbstzweifeln. Die Tageszeitungen fragen, ob die andauernden Erfolge Silvio Berlusconis nicht ein Zeichen der demokratischen Unreife des Landes sei. Das Gebaren Berlusconis, dessen Sex-Nächte mit Prostituierten ausgebreitet werden, als gäbe es einen absolutistischen Herrscher, lässt die Medien daran zweifeln, ob Italien ein reifes Land sei oder sich nicht doch nach einem König zurücksehne.

Das Ansehen Italiens sinkt nach Angaben der Meinungsforscher ständig, Italien fürchtet sich jetzt vor einem Albtraum: tatsächlich unsexy zu werden.