EU-Parlament streitet mit Mitgliedsländern über den Kommissionspräsidenten. Immerhin: Die Regierungschefs einigten sich am späten Abend einstimmig auf dessen Wiederwahl.

Brüssel/Berlin. Während gestern draußen vor dem Brüsseler Ratsgebäude Milchbauern wieder einmal ihrer Wut über die Agrarpolitik Luft machten, konzentrierten sich die Gipfelteilnehmer drinnen mitnichten auf die Wirtschaftskrise. Die Staats- und Regierungschefs beschäftigte nur eine Frage: die zügige Wiederwahl von EU-Kommissionschef José Manuel Barroso.

Die 27 Mitgliedstaaten wollten eine rasche Benennung durchsetzen. "Es ist wünschenswert, dass Europa schnell wieder handlungsfähig wird", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrer Ankunft in Brüssel. "Ich habe mich mehrfach für Barroso ausgesprochen. Und ich denke, dass es bei den Staats- und Regierungschefs eine breite Mehrheit für ihn gibt." Sie sollte recht behalten: Am späten Abend nominierten die EU-Staats- und Regierungschefs den Kommissionspräsidenten einstimmig für eine zweite Amtszeit.

Doch die Mehrheit der 735 EU-Parlamentarier ist gegen eine frühe Benennung. Während des Gipfels kam es deshalb zum offenen Machtkampf zwischen den Regierungschefs und dem EU-Parlament. "Ich werde Barroso nicht wählen und meinen Kollegen empfehlen, das gleiche zu tun", sagte der Fraktionschef der Sozialisten im Europäischen Parlament, Martin Schulz. Er plädierte dafür, die Nominierung des neuen EU-Kommissionspräsidenten auf September zu verschieben. "Im Europaparlament gibt es derzeit keine Mehrheit für Barroso." Auch die Liberalen und die Grünen fordern eine spätere Benennung. Ihre offizielle Begründung: Sie wollen sich nicht vom Vorschlag der Regierungschefs unter Zeitdruck setzen lassen und die Zukunft des neuen EU-Reformvertrags abwarten, um nach dessen Regeln den neuen Kommissionschef zu bestimmen. Über den Vertrag von Lissabon entscheiden die Iren aber voraussichtlich erst im Herbst in einem zweiten Referendum.

Im Kern aber wollen Barrosos Gegner vor allem Zeit gewinnen, um vom Kandidaten schriftliche Zugeständnisse im Hinblick auf eine stärker sozial und ökologisch ausgerichtete Europapolitik zu bekommen. Außerdem setzen sie darauf, dass der Widerstand im Parlament und in den Regierungen wachsen wird und eine Alternative zu Barroso aufgebaut werden kann.

Die EU-Regierungen wollten da nicht mitspielen. "Wir brauchen Führung für Europa", sagte Schwedens Regierungschef Fredrik Reinfeldt. "Es ist nicht die Zeit, auf die Bremsen zu treten." Die Mitgliedstaaten wollen in der Wirtschaftskrise ein Machtvakuum an der Spitze der "EU-Geschäftsführung" unbedingt verhindern.

Auch im Bundestag stand gestern Morgen das Gerangel um Barroso im Vordergrund. Der SPD-Europa-Experte Michael Roth sagte in einer europapolitischen Debatte, seine Fraktion lehne den Portugiesen ab. Unterstützung fand Roth beim Vize-Fraktionschef der Grünen, Jürgen Trittin. Barroso sei "ungeeignet für das Amt". Vor allem warf Trittin Barroso dessen Blockadehaltung beim Klimaschutz vor.

Die eigentlich drängenden Themen rückten beim Gipfel zunächst in den Hintergrund. Streit herrschte über die Regulierung der Finanzmärkte. Erst am Abend einigten sich die Staats- und Regierungschefs, den Plänen von José Manuel Barroso grünes Licht zu geben. Dazu zählen ein bei der Europäischen Zentralbank (EZB) angesiedelter Europäischer Rat für Systemrisiken, der Frühwarnungen abgeben soll - wenn etwa eine Bank so große Probleme bekommt, dass sie andere Geldhäuser mit in den Abgrund zu reißen droht. Zudem sollen drei schon bestehende EU-Aufsichtsgremien für den Banken-, Versicherungs- und Wertpapiersektor zu Behörden aufgewertet und auch mit nationalen Behörden vernetzt werden. Sie sollen als Schiedsgerichte verbindliche Beschlüsse fällen können, etwa wenn sich zwei nationale Aufseher nicht einig werden.

Ausdrücklich wiesen die "Chefs" darauf hin, dass Entscheidungen der neuen Agenturen keine Auswirkungen auf die nationalen Haushalte haben dürften.

Dies war vor allem ein Wunsch Großbritanniens. Das Land mit dem starken Finanzplatz London wehrt sich gegen die Möglichkeit eines verbindlichen Durchgreifens der neuen EU-Behörden. Eine Entscheidung allerdings erwartet in Brüssel niemand vor Ende 2009.