Der Spagat zwischen wirtschaftlicher Öffnung und Besinnung auf 3000 Jahre Hochkultur, Nationalbewusstsein und Kadergehorsam droht das Riesenreich zu zerreißen.

Peking. Mao Tse-tung hat es weit gebracht. Das Konterfei des einst Großen Vorsitzenden ziert jetzt Bierdeckel, Zigarettenanzünder und Flaschenöffner. Hinter der mit Mao-Devotionalien prall gefüllten Theke am Platz des Himmlischen Friedens im Zentrum Pekings läuft auf einem Flachbildschirm eine Videoschleife über die Feierlichkeiten zum 50. Gründungstag der Volksrepublik China im Jahr 1999. Marschmusik tönt aus den Lautsprechern, Soldaten marschieren im Stechschritt an den Führern der Kommunistischen Partei vorbei. Das junge Paar vor dem Tresen starrt auf die Bilder, die aus einer anderen Welt zu kommen scheinen. Aus ihren iPods dröhnt Hip-Hop, rhythmischer Sprechgesang auf Chinesisch. Nach kurzer Zeit wenden sie sich von der Vergangenheit ab. Das pinkfarbene Mobiltelefon klingelt. Party ist angesagt. Die zwei gehen zur Straße und stoppen ein Taxi. Mao, der Staatsgründer, muss auf andere Käufer warten.

Das riesige Reich der Mitte hat seine neue Mitte noch nicht gefunden. Der Spagat zwischen wirtschaftlicher Öffnung nach außen und Besinnung auf 3000 Jahre Hochkultur, Nationalbewusstsein und Kadergehorsam nach innen droht China zu zerreißen. Die 29. Olympischen Sommerspiele, die in vier Monaten am 8. August in Peking eröffnet werden, beschleunigen diesen Prozess. Die heimische Opposition weiß um das Zeitfenster. Sie plant Aktionen. Unter dem Brennglas der Weltöffentlichkeit, hofft sie, lassen sich die Widersprüche der chinesischen Gesellschaft kaum kaschieren. Die Entwicklung der vergangenen Wochen gibt ihr recht. Allein Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Folter und Unterdrückung von Minderheiten stehen seit den März-Unruhen in Tibet auf der internationalen politischen Agenda - und eben nicht Wirtschaftswachstum, Hightech und Exportrekorde, das andere, das moderne China, die größte Fabrik der Welt. Chinas Regierung schwant, dass sie mit Olympia jene Geister rief, die sie nie ins Land hatte holen wollen.

Selbst die Zensur der Medien und des Internets, die Abschirmung und Überwachung Andersdenkender kann die ideologische Diversion nicht stoppen. Die Kommunistische Partei (KP) sieht ihre Machtbasis gefährdet. Premierminister Wen Jiabao und Staatspräsident Hu Jintao fallen Kompromisse daher schwer. Ein Olympiaboykott, glauben Beobachter, käme ihnen inzwischen wie gerufen. Die Nation wäre leichter zu einen und der Feind klarer zu orten: im Ausland. Kein Chinese schließlich spricht den Kommunisten das Verdienst ab, das Land nach zahlreichen verlorenen Kriegen von jahrhundertelanger Fremdherrschaft befreit zu haben. Das wird anerkannt. Und Tibet, sagen die Chinesen, gehört zur Familie. Darüber lässt sich nicht einmal mit den Oppositionellen streiten.

Abseits des Nationalstolzes, des elitären Bewusstseins, zur ältesten Kulturnation der Welt zu gehören, hat die KP längst die Deutungshoheit für die 1,3 Milliarden Chinesen verloren. Für die Programme der Partei interessiert sich kaum noch jemand, fürs Geldverdienen fast jeder. "Das Streben nach Gewinn ist in China an die Stelle der Moral getreten", sagt Qingwei Wang. Der junge Mann, der sich für Touristen "Bob" nennt ("das ist leichter auszusprechen"), dient sich Ausländern in Peking als Reiseführer an. Er kommt aus der Provinz und hat sich Englisch im Selbststudium beigebracht. Die Olympischen Spiele sieht er als Chance für sich und sein Land. "Wenn wir keinen Kontakt mit Ausländern haben, werden wir sie nicht verstehen - und sie uns nicht."

Das moderne China ist nicht immer leicht zu verstehen. Bildungschancen für alle, Gleichheit, Gerechtigkeit - für "Bob" sind das keine Themen, "für die meisten Chinesen ebenfalls nicht". Über solche Dinge redeten Träumer, die lebten jetzt am Straßenrand, in den engen Gassen jenseits des Wohlstands und gehörten zu den Verlierern der Gesellschaft. Ellenbogen zählen. "Uns bieten sich so viele Möglichkeiten, etwas aus unserem Leben zu machen, wer die nicht nutzt, ist am Ende selbst schuld", sagt "Bob", "wir haben jetzt zwei Beine, den Kommunismus und den Kapitalismus, und damit geht es sich schneller als auf einem."

Reichtum wird niemandem geneidet. Im Gegenteil: Wer es nach oben geschafft hat, wird bewundert, egal ob Ausländer oder Einheimischer. Und in einem Land, das sich über Symbole definiert, darf keiner seinen Wohlstand verstecken, will er nicht den Respekt seiner Mitmenschen und Mitarbeiter verlieren. "Als ich nach Peking kam, hielt ich es nicht für wichtig, ein großes Auto zu fahren. Schnell wurde mir bedeutet, dass ich als Führungskraft eine deutsche Nobelmarke zu fahren habe, wenn ich Probleme vermeiden will", erzählt Bayer-Manager Norbert Stöhr. Zum Status gehören auch Achten in der Telefon- oder Wagennummer, je mehr, desto größer ist die Anerkennung. Die Acht ist in China eine Glückszahl. Die Spiele in Peking beginnen am 8.8.08 um 8.08 Uhr abends.

Das Tempo des Wandels aber können längst nicht alle mithalten. In keinem anderen Land klafft die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land derart auseinander - obwohl vom Wirtschaftsboom der vergangenen zwölf Jahre fast alle Chinesen profitiert haben, einige mehr, viele weniger. Die Wanderarbeiter, 150 Millionen soll es von ihnen geben, sind sichtbarer Beleg der Unterschiede. Sie hausen in den gläsernen Prachtbauten, die sie errichten, oder kampieren schutzlos am Straßenrand. Fast fünf Millionen sind derzeit in Peking beschäftigt. Emsig wirken sie nicht. Die Masse macht's. Bis zum Beginn der Olympischen Spiele werden sie die Stadt verlassen; weil es die Regierung so will und weil es während Olympia für sie in Peking einen Monat lang nichts zu tun geben wird.

Auch in vielen Köpfen der breiten Mittelschicht, auf 400 Millionen wird sie gezählt, ist der Geist der neuen Zeit nicht eingezogen. Die hierarchische Struktur der Gesellschaft blockiert weiter Kräfte, Eigeninitiative und Verantwortung muss der Großteil der Chinesen erst lernen. "Praktisch jede Tätigkeit muss exakt angewiesen werden", berichten deutsche Hotel-Manager, "80 Prozent der Leute kommen beispielsweise nicht auf die Idee, wenn ein Tisch von A nach B gerückt wurde, ihn später wieder von B nach A zu stellen." Gute Mitarbeiter sind umkämpft. Die Firmen bilden aus, holen sie täglich aus ihren Quartieren ab und chauffieren sie zurück. Dennoch bleibt die Fluktuation groß. Die Konkurrenz zahlt sich für die Angestellten aus, gut ausgebildete Chinesen wiederum, vor allem jene, die im Ausland studiert haben, sind für die Unternehmen kaum noch zu bezahlen.

Wer Widersprüche in China entdecken will, er findet sie an vielen Orten. Beispiel Prostitution: Offiziell ist sie verboten, geduldet wird sie fast überall. Auf den Straßen der Pekinger Vergnügungsmeile werden Massagen unter den Augen der Polizei angeboten - "wenn du willst mit Happy End". Eines der größten Bordelle der Stadt bietet gegenüber des streng bewachten Botschaftsviertels seine Dienste bis Mitternacht an, in den Hallen der internationalen Hotels gehen junge Damen ungeniert ihrem Gewerbe nach. Nebenan im Restaurant feiern Mitarbeiter des Büros für öffentliche Sicherheit, das ist die Stasi Chinas, mit Weißbier und Weißwürsten ihren Feierabend. Nichts hören und nichts sehen gehört normalerweise nicht zu ihren Jobs.

"Unter gewöhnlichen Umständen", hat Mao Tse-tung geschrieben, "sind Widersprüche im Volk nicht feindselig." Wenn man sie aber nicht richtig behandele und die Wachsamkeit verliere, "können sie feindselig und zur Sprengkraft der Gesellschaft werden". Seine Weisheiten werden in China nur noch selten gehört. Dabei gibt es sie am Platz des Himmlischen Friedens für umgerechnet einen Euro zu kaufen. Sie liegen neben den Kondomen.