Aus friedlichen Demonstrationen wurden gewalttätige Auseinandersetzungen. Anlass war offenbar das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Geistlichen.

Peking. Chaos und Gewalt herrschten am Jokhang-Tempel, dem Heiligtum der tibetischen Pilger im Herzen von Lhasa. Nach den tagelangen friedlichen Protesten der buddhistischen Mönche gegen die chinesische Fremdherrschaft im größten Hochland der Erde geriet die Lage am Freitag außer Kontrolle. Es entlud sich aufgestaute Frustration und Wut über die als Besatzer empfundenen Chinesen. Fünf Monate vor den Olympischen Spielen, zu denen die Welt die kommunistischen Führer in Peking und die Lage der Menschenrechte in China ganz besonders unter die Lupe nimmt, hat China plötzlich einen neuen, wenngleich alten Brandherd - mit unberechenbaren Folgen.

Vor knapp zwei Jahrzehnten stand der heutige Präsident Hu Jintao als damaliger Parteichef von Tibet vor einer ähnlichen Herausforderung. Damals, 1989, waren in Lhasa ebenfalls schwere Unruhen ausgebrochen. Hu Jintao mobilisierte das Militär gegen die Demonstranten, verhängte den Notstand, regierte mit harter Hand. Seither bemüht sich Peking, das arme Hochland wirtschaftlich voranzubringen und dafür auch mit der ersten Eisenbahnstrecke auf das "Dach der Welt" besser mit China zu integrieren. Da die Probleme aber nur unterdrückt und nicht gelöst wurden, überschatten auf der laufenden Tagung des Volkskongresses in Peking ausgerechnet die schwersten Unruhen in Tibet seit 1989 die Wiederwahl von Hu Jintao als Staatschef für weitere fünf Jahre.

"Es war immer ein Alptraum-Szenario der Chinesen, dass sich die einfachen Tibeter den Protesten der Mönche und Nonnen anschließen", sagte der Tibet-Experte Robert Barnett von der Columbia-Universität in New York. "Deswegen haben sie in den vergangenen drei Tagen so große Anstrengungen unternommen, die Proteste der Nonnen und Mönche auf die Klöster außerhalb von Lhasa zu begrenzen." Sicherheitskräfte umstellten oder kontrollierten die großen Klöster, vergaßen aber offenbar ein kleines Kloster aus dem 7. Jahrhundert im Zentrum Lhasas. Und dessen Mönche begannen am Freitagmorgen einen Marsch in der Innenstadt, wie der Tibet-Fachmann von seinen Quellen in Lhasa erfuhr. Als die Polizei ausgerechnet mitten im Herzen der tibetischen Hauptstadt gegen diese Mönche vorging, habe das offenbar die gewalttätigen Reaktionen der einfachen Tibeter gegen die Chinesen und den "Vandalismus" ausgelöst, sagte Barnett.

Seit Montag, dem Jahrestag des Aufstandes von 1959 gegen die Chinesen, dauern die Proteste der buddhistischen Mönche und Nonnen schon an. Es ist nicht einmal ein runder Jahrestag, aber die Exiltibeter hatten sich im Olympia-Jahr diesen Tag als Auftakt einer neuen Kampagne ausgesucht. Die radikaleren Kräfte unter den Exiltibetern, die nicht alle dem gemäßigten Kurs des Dalai Lamas folgen, sehen in den Olympischen Spiele ihre Chance, vielleicht die letzte, um etwas zu bewegen. Ihre Aktionen haben sich über Handy und andere moderne Kommunikationsmittel auch in Tibet herumgesprochen.

Zwar deutet mancher Protest in Tibet auch auf konzertierte Aktionen hin, doch erscheinen die gewalttätigen Ausschreitungen spontan gewesen zu sein, da sie so wenig mit den geplanten friedlichen Protesten zu tun haben. "Das Traurigste ist, dass die Chinesen ein System geschaffen haben, in dem es keinen Tibeter oder andere Führer gibt, die ein Mandat oder Popularität im Volk genießen", sagte der Tibet-Experte Barnett. "Deswegen ist es schwer zu sehen, wie sie das Problem auf eine andere Weise lösen werden als durch den Einsatz von Gewalt."