Hamburg. Holocaust. Für jeden halbwegs informierten Menschen bedarf dieses Wort keiner Erläuterung. Es beschwört beklemmende Visionen herauf - Leichenberge, SS-Schergen, die Rampe von Auschwitz.

Aber Holodomor? Selbst viele historisch versierte Menschen können mit diesem düster klingenden Begriff nichts anfangen. "Es ist unser Holocaust", erklärt der ukrainische Vizeaußenminister Volodymyr S. Ogrysko.

Zum ersten Mal war der hochgewachsene Politiker mit der sanften Stimme gestern in Hamburg - zur Eröffnung einer Ausstellung über eben jenen Holodomor im Museum für Völkerkunde an der Rothenbaumchaussee, die dank der Flexibilität der Museumsleitung unter Professor Wulf Köpke kurzfristig in das Programm genommen worden war. Angeregt hatte die Ausstellung der ukrainische Generalkonsul im Hamburg, Andriiy Melnik.

Holodomor - bezeichnet wird damit der vorsätzlich herbeigeführte Hungertod von fast acht Millionen Ukrainern in den Jahren 1932/33. Unter den Opfer waren rund drei Millionen Kinder.

Historische Vergleiche mit dem Holocaust, wie sie im Historikerstreit der 80er-Jahre gezogen wurden, sind umstritten. Doch als gesichert darf gelten, dass der sowjetische Diktator Josef Stalin 1932 den Befehl erteilte, die ukrainischen Kulaken - Großbauern - kurzerhand zu eliminieren. Die Kulaken waren Stalin aufgrund ihres hart erarbeiteten Wohlstands ein Dorn im Auge, denn dies ermöglichte ihnen politische Unabhängigkeit. Zudem wollte der Diktator mit Gewalt den ukrainischen Freiheitswillen brechen, den gerade die Kulaken verkörperten - sie weigerten sich, den Kolchosen beizutreten.

Hatte Lenin den Ukrainern noch Freiheiten gelassen, holte Stalin 1932 zum tödlichen Schlag aus. Truppen des gefürchteten Geheimdienstes NKWD umstellten die Dörfer und nahmen den Bauern sämtliche Nahrungsmittel ab - alle Vorräte, das Vieh, das ganze Korn. Zu essen blieb ihnen nichts. Ihr Land wurde enteignet, und den Menschen untersagt, ihr Dorf zu verlassen. Wer es versuchte, wurde erschossen. Bei strenger Strafe war es zudem verboten, Körner aufzusammeln. Das konfiszierte Getreide wurde profitabel exportiert.

"Im Dorf Shyroke wurde eine Frau mit ein paar Kornrispen gefasst, die sie aufgelesen hatte. Sie bekam dafür acht Jahre Haft", erinnerte sich der Augenzeuge Ivan Aprasiuchin. Andere Zeitzeugen berichten von Kannibalismus.

Der Schriftsteller Wladimir Tendrjakow, der den Holodomor 1933 als Kind erlebte, schrieb, die ausgemergelten Kulaken hätten keine Ähnlichkeit mehr mit Menschen gehabt, sondern waren "Skelette mit riesigen, sanften, brennenden Augen".

Erst ganz allmählich sickert der Holodomor ins Bewusstsein der Welt - als einer der größten Völkermorde der Geschichte. Doch warum erst jetzt? "In der Sowjetzeit war das Thema ein Tabu", sagt Vizeaußenminister Ogrysko dem Abenblatt. "Jeder hatte Angst, darüber zu reden - wer es tat, wurde als ukrainischer Nationalist nach Sibirien deportiert. Erst seit der Unabhängigkeit 1991 haben wir angefangen, die Archive zu sichten."