Hamburg. "Die Armee Russlands - traditionell eine der tragenden Säulen des Staates - ist immer noch ein Straflager hinter Stacheldraht für die jungen Bürger des Landes." Ein Satz wie ein Axthieb. Er stammt von der legendären Enthüllungs-Journalistin Anna Politkowskaja, die jahrelang sehr kritisch über die Armee ihres Landes berichtete und im Oktober 2006 von einem Profikiller ermordet wurde.

Die himmelschreienden Vorgänge innerhalb der russischen Armee mit ihren 980 000 Soldaten, davon 330 000 jungen Wehrpflichtigen, wären wohl bis heute der Öffentlichkeit unbekannt, gebe es nicht couragierte Journalisten wie Anna Politkowskaja - und Gruppen wie das "Komitee der Soldatenmütter".

Nach dessen Schätzungen sterben jedes Jahr rund 3000 Wehrdienstleistende, viele von ihnen durch Selbstmord. Sogar nach offizieller Statistik des Verteidigungsministeriums waren 22 der 45 Todesfälle im vergangenen Mai Selbsttötungen.

Das Motiv ist fast immer dasselbe: abgrundtiefe Verzweiflung über die Misshandlungen und Erniedrigungen durch ältere Soldaten und Vorgesetzte. Das System hat in Russland eine alte Tradition und einen eigenen Namen: "Dedowtschina" - die Herrschaft der Großväter. Ältere Soldaten und Vorgesetzte werfen sich gegenüber den nachrückenden Rekruten - zwischen 1. April und 30. Juni wurden 133 500 Männer zum Militärdienst eingezogen - zu absoluten Herrschern auf - oft über Leben und Tod. Die "Großväter", nehmen den Jungen Sold und Essen ab - beides ohnehin erbärmlich karg -, prügeln und vergewaltigen sie, lassen sie für sich arbeiten. Das grausame System geriet Anfang 2006 in das Schlaglicht der Öffentlichkeit - durch das Komitee der Soldatenmütter.

Vorangegangen war das unglaubliche Martyrium des 19-jährigen Rekruten Andrej Sytschow. In der Neujahrsnacht stürmen mehrere Soldaten, darunter ein Unteroffizier, die Unterkunft Sytschows in der Panzerschule im sibirischen Tscheljabinsk. Sie foltern und vergewaltigen den Hilflosen stundenlang, lassen ihn so lange verrenkt knien, bis die Blutzirkulation im Unterkörper stockt. Erst am 4. Januar wird Sytschow halb tot ins Hospital gebracht, wo ihm beide Beine und die Genitalien amputiert werden. Im März müssen die Beinstümpfe wegen Wundbrands weiter abgeschnitten werden.

Die Militärs versuchen, den Skandal zu vertuschen, doch die "Mütter" informieren Staatsanwaltschaft und Presse. Verteidigungsminister Sergej Iwanow - der gute Chancen hat, Wladimir Putin als Präsident Russlands nachzufolgen - erklärt zunächst ungerührt, er glaube nicht, dass in Tscheljabinsk "etwas sehr Ernstes" vorgefallen sei. Aussagewillige Soldaten werden eingeschüchtert, Sytschows Mutter erhält nach eigener Aussage das Angebot, gegen eine Wohnung und hunderttausend Dollar die Anklage fallen zu lassen. Doch sie weigert sich.

Schließlich wird der Unteroffizier zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt, zwei Mitangeklagte zu Bewährungsstrafen.

Eine Krise der Armee gebe es nicht, beteuert Iwanow. Und fügt hinzu, täglich erhalte das Verteidigungsministerium "Dankesworte dafür, dass ihre Söhne zu echten Männern werden".