Mißhandlung: Hinter einer Mauer des Schweigens blühen Schikanen und grausame Riten in der Armee

Moskau. Natalja Siwjakowa versteht die Welt nicht mehr. Ihr freundlicher, liebenswerter Sohn Alexander soll ein Verbrecher sein? Das will sie nicht glauben. Und doch steht Unteroffizier Alexander Siwjakow zusammen mit den Soldaten Pawel Kusmenko und Gennadi Bilimowitsch vor einem Militärgericht in Tscheljabinsk, weil ihre Brutalitäten den Soldaten Andrej Sytschow beinahe das Leben gekostet hätten.

Nach erlittenen Mißhandlungen mußten dem 20jährigen beide Beine und die Genitalien amputiert werden. Der Ablauf der Tat, wie ihn die Anklage angesichts einer Mauer des Schweigens nur mühsam rekonstruieren konnte, war ebenso banal wie brutal. Es war die Neujahrsnacht zwischen dem 31. Dezember und dem 1. Januar 2006.

In der Versorgungskompanie der Offiziersschule der Panzertruppen in Tscheljabinsk war der Tisch festlich gedeckt. So gut das eben in einer russischen Kaserne möglich war. Auch Flaschen mit Hochprozentigem, obwohl verboten, machten die Runde.

Gegen vier Uhr morgens kamen die betrunkenen "Djedy", die Großväter. So werden diejenigen genannt, die schon länger gedient haben und das Recht beanspruchen, Neuankömmlinge brutal schikanieren zu dürfen und sich von ihnen wie von Sklaven bedienen zu lassen. Die "Djedowschtschina" die "Herrschaft der Großväter", ein jahrhundertealtes Schikane-Ritual, dessen Existenz von der Armeeführung immer bestritten wird, hat schon viele Opfer gefordert. In jener Nacht war Soldat Andrej Sytschow an der Reihe. Seine Peiniger jagten ihn aus dem Bett, prügelten ihn, zwangen ihn, halb in die Hocke zu gehen und dabei auf den Zehen zu stehen. In dieser schmerzhaften Pose mußte Sytschow mehr als drei Stunden verharren, ständig verprügelt von der trunkenen Horde.

Die Folge der Mißhandlungen: Durch die lange Zeit schwer gestörte Blutversorgung setzte bei Sytschow Brand ein, der das Gewebe zerstörte. Doch der Soldat, der über schwere Schmerzen klagte, wurde erst am 4. Januar ins Krankenhaus geschafft. Die Ärzte diagnostizierten neben dem Wundbrand auch mehrere Knochenbrüche. Nachdem sie erst ein Bein amputierten, mußten sie schließlich auch das zweite und die Genitalien entfernen.

Der Vorfall sollte wie gewohnt unter den Teppich gekehrt werden. Erst ein anonymer Anruf beim Komitee der Soldatenmütter aus dem Krankenhaus brachte den Fall ins Rollen. Die Militärstaatsanwaltschaft war gezwungen, sich einzuschalten.

Doch gleichzeitig wurde die Familie Sytschow unter Druck gesetzt und bedroht. Die Mutter traute sich kaum noch, mit den Medien zu sprechen. Sollte sie das tun, werde alles nur noch schlimmer, wurde ihr von seiten der Militärs bedeutet. Die neue Wohnung in Moskau oder Petersburg und die 100 000 Dollar, die ihr geboten wurden, sollte sie die Anklage fallen lassen, nahm die Familie nicht an. "Wir wollten uns nicht verkaufen", sagte Sytschows Schwester Marina.

Ob mit dem Prozeß dem Phänomen der "Djedowschtschina" beizukommen ist, scheint fraglich angesichts von Vertuschung und Gesundbeterei durch die Generalität. Jedes Jahr desertieren rund 20 000 Armeeangehörige wegen unsäglicher Quälereien. Eine ähnlich große Anzahl büßt ihr Leben ein. Allein 2005 verlor die russische Armee nach Angaben des Verteidigungsministeriums 20 390 Mann. Offiziell wurden nur 16 von ihnen Opfer der "Djedowschtschina", 276 begingen Selbstmord. Das Komitee der Soldatenmütter glaubt jedoch, daß 80 Prozent aller Verbrechen vertuscht werden.

Viele Eltern halten es deshalb inzwischen für ihre moralische Pflicht, ihre Söhne vor dem Wehrdienst in dieser Armee zu bewahren. Denn das ist kein Platz für normale Menschen, warnte Rußlands Pop-Legende Andrej Makarewitsch.