Epidemie: Ein neues, billiges Rauschgift überschwemmt die USA - ein Sterbender warnt in einem Doku-Film. Schon zwölf Millionen nehmen das extreme Aufputschmittel. Ein US-Politiker nennt es die größte Gefahr für Amerika, “und da schließe ich al-Qaida mit ein . . . “

Washington. Die Augen weit aufgerissen, den Blick scheinbar ins Nichts gerichtet, preßt Shawn Bridges kaum verständliche Kehllaute heraus: "Ahmmmm coolllld." Soll heißen: "I'm cold" - mir ist kalt. Shawns Vater Jack holt eine blaue Wolldecke und wickelt seinen Sohn darin ein. Was nicht einfach ist, denn die Gliedmaßen des 34jährigen sind steif und starr.

1,84 Meter mißt Shawn, und vor nicht allzulanger Zeit wog er noch 90 Kilo, war stark wie ein Baum und fuhr 40-Tonnen-Lkw über die amerikanischen Highways. Jetzt aber ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Abgemagert auf 58 Kilogramm, mit einem Herzen, das dreimal so groß ist, wie es sein soll, und bereits drei Infarkte hinter sich hat, scheint der Mann in dem weißen Kranhausbett, das im Wohnzimmer seiner Eltern steht, mehr im Jenseits als im Hier und Jetzt.

Jack Bridges, selbst Trucker, hat sich freigenommen, um seinen Sohn zu pflegen. Er schaut zu Shawn hinüber und sagt: "Er hat den Körper eines 34jährigen mit dem Inneren eines 70- bis 80jährigen." Dann fügt der Mann noch hinzu: "Sie sehen, was Meth aus meinem Sohn gemacht hat und was mein Sohn mit sich hat machen lassen." Meth steht für Crystal Methamphetamin, einen Begriff, hinter dem sich - vom Rest der Welt und von auch vielen Amerikanern fast unbemerkt - die größte Drogenkatastrophe der USA verbirgt.

Das künstlich, auf Ephedrin-Basis hergestellte Rauschgift überschwemmt von Westen kommend immer mehr die Vereinigten Staaten und füllt Krankenhäuser, Gefängnisse und Friedhöfe. Meth ist nicht nur billiger als Heroin und Kokain, sondern auch leicht herzustellen und zeigt Wirkungen, die auf den ersten Blick vielen Jugendlichen, aber auch Erwachsenen durchaus erstrebenswert erscheinen. Die Modedroge zügelt den Appetit und hilft somit beim Abnehmen, sie steigert die Leistungsfähigkeit dramatisch und sorgt - anfänglich jedenfalls - auch für ein Rundum-Wohlgefühl.

Caitlin Moe aus Missoula (US-Staat Montana) erinnert sich, wie sie zu Meth kam: "Ich war 15, als mich in der Schulpause eine Freundin fragte, ob ich was Tolles probieren wolle, womit man prima lernen könne und mehr Energie bekomme. Es hörte sich gut an, und so nahm ich Meth zum ersten Mal - es war irre. Ich fühlte mich riesig, konnte bis in die Nacht lernen, ohne müde zu werden. So nahm ich es weiter und wurde auch noch schlanker. Super! dachte ich." Caitlins schulische Erfolge waren jedoch nur von kurzer Dauer. Sie wurde abhängig von Meth, brach die Schule ab, bestahl ihre Eltern um Geld für die Droge, verlor nach und nach alle Freunde und landete im Gefängnis, schließlich im Entzug. Seit drei Jahren ist die heute 22jährige Verkäuferin "clean" und betet, daß sie es bleibt.

In Montana, das für seine Berge, seine herrliche Landschaft und gesundes Leben bekannt ist, hat Gouverneur Brian Schweitzer den Meth-Notstand ausgerufen. In seinem Bundesstaat halten sich inzwischen 85 Prozent aller weiblichen Häftlinge wegen Vergehen im Gefängnis auf, die im Zusammenhang mit ihrer Meth-Abhängigkeit stehen. 70 Prozent aller Rauschgift-Delikte in Montana haben Meth als Ursache. Schweitzer, der gerade zwei neue "Meth-Gefängnisse" bauen läßt, um der Drogenwelle Herr zu werden, warnte in der "New York Times" eindringlich: "Meth zerstört Familien, es zerstört unsere Schulen, es vernichtet unsere Haushalte für Gefängnisse, Sozialdienste und Gesundheitsvorsorge. Wir verlieren eine Generation produktiver Menschen."

Montana, das mit 900 000 Einwohnern zu den bevölkerungsärmsten US-Bundesstaaten gehört, hat im Kampf gegen Meth jetzt eine schockierende Kampagne gestartet. Auf einer großen Plakatwand vor dem Kapitol in der Staatshauptstadt Helena ist eine völlig verdreckte Toilette abgebildet. Darunter steht zu lesen: "Niemand denkt, daß er hier seine Jungfräulichkeit verlieren wird. Meth wird das ändern." Ein Fernsehspot zeigt, wie sich eine junge Frau ihre Augenbrauen ausreißt, scheinbar ohne zu spüren, was sie tut.

Inzwischen nehmen rund zwölf Millionen Amerikaner regelmäßig Meth, das beim Preis von umgerechnet 20 Euro pro Dosis vergleichsweise erschwinglich ist. 6,3 Prozent der US-Teenager geben zu, die neue Superdroge mindestens einmal probiert zu haben. Michael Walther, Direktor des Nationalen Drogen-Aufklärungs-Zentrums (NDIC), spricht von einer "nationalen Krise" und sieht vorerst keine Lösung: "In den letzten zehn Jahren haben Handel und Mißbrauch von Meth Individuen ebenso vernichtet wie Familien und ganze Gemeinden im Westen und Mittelwesten der USA. Jetzt bahnt es sich den Weg an die Ostküste." Die Tatsache, daß sich das Drama bisher hauptsächlich im Westen des Landes abgespielt hat, ist auch einer der Gründe, warum die Politiker in der Hauptstadt Washington erst jetzt anfangen, auf die eklatante Gefahr zu reagieren - viel zu spät, wie Experten glauben.

Cal Byker, der für die Dokumentation "Meth Epidemic" (Meth Epidemie) acht Monate im Westen der USA recherchiert und gefilmt hat, erzählt von führenden Polizisten in Portland (US-Staat Oregon), die, ohne daß er sie darauf ansprach, auf ihn zukamen und erklärten: "Können Sie es glauben, aber die Bundespolizei in Washington ist der Ansicht, daß Haschisch ein ebenso wichtiges Problem ist wie Meth. Sind die völlig verrückt?" Immerhin hat sich der Ernst der Lage so weit in Washington herumgesprochen, daß der republikanische Kongreßabgeordnete Tom Osbourne unlängst alarmiert äußerte, dies sei "die größte Bedrohung Amerikas, und das schließt al-Qaida mit ein".

Nach Ansicht von Dokumentarfilmer Byker wäre es "relativ einfach" gewesen, Meth zu kontrollieren, bevor es sich zur Epidemie ausgewachsen hat. Der Regisseur: "Das ist keine Droge, die auf Millionen Hektar Mohn- oder Kokafeldern wächst, sondern deren Grundstoff in neun Fabriken weltweit hergestellt wird."

Meth ist nicht ohne das in vielen Erkältungsmitteln enthaltene Ephedrin oder Pseudoephedrin zu produzieren, das, wie Byker richtig sagt, nur in neun Unternehmen in Deutschland, China, Indien und Tschechien produziert und weltweit verschickt wird. In den USA kommt es in Form verschreibungsfreier Erkältungsmedizin in die Regale der Drogerien und ist bisher für jedermann in jeder Menge frei zugänglich. Genau darin liegt eines der Hauptprobleme - daß nämlich weder der Medikamentenverkauf noch die Menge des gelieferten Ephedrins bzw. Pseudoephedrins in irgendeiner Weise geregelt waren. So importieren viele Länder mehr des Meth-Grundstoffes, als sie zur Produktion von Medikamenten brauchen. Ein Untersuchungsausschuß in Washington brachte ans Licht, daß Mexiko im Jahre 2004 insgesamt 224 Tonnen Pseudoephedrin importierte, aber nur die Hälfte davon für Medikamente benötigte. Wo die andere Hälfte blieb, weiß man nicht. Experten sind jedoch sicher, daß sie in sogenannten Super-Labors in Meth umgewandelt und dann nach "El Norte", also in die USA geschmuggelt wurde.

Erst im März dieses Jahres hat das US-Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den globalen Handel mit Ephedrin und Pseudoephedrin genau überwachen und regulieren soll. Vom 30. September an dürfen Medikamente, die Ephedrin oder Pseudoephedrin enthalten, nicht mehr frei verkauft werden, und jeder Konsument darf höchstens neun Gramm Pseudoephedrin, das Äquivalent von etwa 300 Pillen, im Monat zu sich nehmen.

Ob diese Maßnahmen wirklich greifen, bleibt abzuwarten. Jack Bridges jedenfalls hofft es, hat aber seine Zweifel. Erfolg verspricht er sich davon, daß ein Wunsch seines sterbenden Sohnes erfüllt wird. Shawn hatte, kurz bevor er vollständig der Pflegebedürftigkeit verfiel, darum gebeten, einen Dokumentarfilmer zu suchen, der das Ende seines Lebens filmt und schildert, was Meth bei ihm angerichtet hat, um andere davon abzuhalten. Der TV-Journalist Chip Rossetti hat diesem Wunsch entsprochen und die Dokumentation "No More Sunsets" (Keine Sonnenuntergänge mehr) gedreht. Rossetti sagt in dem Streifen: "Shawn stirbt wegen der Entscheidungen, die er getroffen hat. Vor langer Zeit hat er sich entschieden, der Versuchung nachzugeben und mit Drogen zu leben."

Vater Jack Bridges findet das okay: "Wir wollen, daß die Geschichte würdevoll erzählt wird, aber auch so klar und deutlich wie möglich, damit andere Leute anderswo sehen, was Meth aus ihnen machen kann."