Voyeurismus: Immer mehr New Yorker “entdecken“ per Fernglas ihre Nachbarn - liegt es daran, daß dort so viele Singles leben?

New York. Wenn es Nacht wird in New York, werden die Teleskope scharf gestellt. Aber nicht, um den Sternenhimmel zu beobachten - die Sterne sieht man über der versmogten Metropole sowieso nicht -, sondern um die Nachbarn zu bespitzeln. Viele Bewohner des Wolkenkratzerwaldes haben 200 oder mehr Wohnungen auf einmal im Blick und verfolgen das Privatleben Dutzender Menschen, ohne diese jemals persönlich kennenzulernen.

Jede Woche werden in New York etwa 100 Teleskope verkauft. Dazu kommen Ferngläser, Operngläser und Teleobjektive. In manchen New Yorker Hotels gehören Ferngläser auf der Minibar schon zur festen Ausstattung. "In Manhattan zu leben hat von vornherein einen voyeuristischen Aspekt", sagt Matt Grzywinski, der Co-Designer des Hotels on Rivington. "Wir wollen New-York-Besuchern die Möglichkeit geben, sich daran zu beteiligen."

Den Paparazzi von nebenan kommt zugute, daß viele Hochhaus-Wohnungen keine Jalousien oder Vorhänge haben. Wenn man so hoch oben lebt, gibt man sich leicht dem Gefühl hin, den Blicken der anderen entzogen zu sein. Doch wer mit seinem Teleskop die Krater des Mondes studieren kann, vermag damit allemal irdische Abgründe auf der anderen Seite des Central Parks auszuloten.

Dazu kommt noch, daß sich viele New Yorker nur allzu willig den fremden Blicken aussetzen. Es gibt sogar schon Hotel-Badezimmer, die bis zum Boden verglast sind, um sowohl Einblick nach draußen als auch von draußen zu gewähren. "Sehen und gesehen werden" bekommt so eine ganz neue Bedeutung. Hollywood hat sich des Phänomens 1993 in dem Erotik-Thriller "Sliver" angenommen: Ein scheinbar anonymes Hochhaus in Manhattan entpuppt sich da als perfekte Überwachungsstation.

Vielleicht hat es etwas damit zu tun, daß New York die höchste Singledichte der USA hat. 60 Prozent der erwachsenen New Yorker sind solo und die meisten von ihnen ständig auf der Suche nach dem nächsten Date.

"Ich würde zwar nicht gerade von einem Hobby sprechen, aber ich lasse keine Gelegenheit zum Spähen aus", erzählt eine "weibliche Voyeuristin" auf der Website PaulKatcher.com. Am tollsten sei es natürlich, anderen beim Sex zuzuschauen. "Ich habe nicht nur Leute in Mietshäusern dabei beobachtet, sondern auch in Bürohochhäusern am Tage. Das Beste ist, wenn es richtig attraktive Typen sind. Aber es gefällt mir auch, Leute, die ich kenne, in flagranti zu ertappen. Manchmal werden sie einem dadurch sympathischer."

Barbara Hillebrand (33), die seit einem halben Jahr in New York lebt, kennt solche Reality-Soaps von der anderen Straßenseite bereits aus Holland: "Dort sind Hochhäuser zwar eher selten, aber dafür gibt es keine Gardinen. Meinen Nachbarn von gegenüber, einen schwulen Zahnarzt, habe ich zwei Jahre lang beobachtet. Ich weiß sogar, daß er an Silvester seine neue Liebe gefunden hat, denn an dem Abend habe ich den alten Freund zum letzten und den neuen zum ersten Mal gesehen." Immer wieder mal hat sie mit dem Gedanken gespielt, den Mann, den sie aus der Distanz so gut kannte, auf der Straße anzusprechen. "Einmal stand ich wirklich kurz davor und wollte ihn zu einer Feier einladen. Aber als sich unsere Blicke trafen, hat er sofort weggeschaut. Da habe ich plötzlich gedacht: "Vielleicht beobachtet der mich ja auch!"