Wahlbetrug: ? Massenproteste eskalieren. Oppositionschef legt den Präsidenten-Eid ab.

HA. Der Machtkampf nach der Präsidentenwahl in der Ukraine hat sich gestern abend bedrohlich zugespitzt: Mehrere tausend Anhänger von Oppositionsführer Viktor Juschtschenko marschierten aus Protest gegen das amtliche Wahlergebnis zum Präsidenten-Palast in Kiew. Die Menge wurde 100 Meter vor dem Ziel von schweren Lastwagen gestoppt. Bereitschaftspolizisten riegelten das Gebäude ab und drängten Demonstranten zurück. Andere Demonstranten errichteten Zelte auf dem Unabhängigkeitsplatz und schworen, dort zu bleiben, bis Juschtschenko offiziell zum Präsidenten erklärt werde.

Zuvor hatten 300 000 Menschen in Kiew friedlich für Juschtschenko demonstriert und der Regierung Wahlbetrug vorgeworfen. Auch in Lwiw (Lemberg) gingen mehr als 100 000 Menschen für Juschtschenko auf die Straße.

Juschtschenko erklärte sich zum Wahlsieger und legte auf Drängen seiner Partei sogar im Parlament den Amtseid des Präsidenten ab. Er schwor auf die Bibel und forderte das Parlament auf, die Stichwahl für ungültig zu erklären. "Ich schwöre, daß wir gewonnen haben!" rief er.

Die Wahlkommission hatte den Sieg des pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch verkündet. Er habe die Stichwahl mit gut drei Prozentpunkten Vorsprung gewonnen. 150 ukrainische Diplomaten erklärten gestern, sie erkennten dieses Ergebnis nicht an.

Juschtschenko sagte vor Zehntausenden Anhängern vor dem Parlamentsgebäude: "Das Parlament ist die einzige Institution, um die politische Situation im Land zu regeln." Drinnen kamen die Abgeordneten zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, um über die Einberufung eines Untersuchungsausschusses zu entscheiden. Mit nur 191 Abgeordneten war das 450 Sitze umfassende Parlament indes nicht beschlußfähig.

Juschtschenko forderte das Ausland auf, ihn als Wahlsieger anzuerkennen: "Wir appellieren an die Parlamente und Nationen der Welt, den Willen des ukrainischen Volkes und sein Streben nach einer Rückkehr zur Demokratie zu unterstützen." Die Opposition werde angesichts der "groben Fälschung der Wahlergebnisse" eine Kampagne des zivilen Ungehorsams starten und in einem "gewaltfreien Kampf für die Anerkennung der wahren Resultate" streiten.

Wie am Vortag glich der Platz der Unabhängigkeit in Kiew einem Meer aus Orange, der Farbe der Opposition.

Der Westen kritisierte die Stichwahl um das Präsidentenamt abermals als undemokratisch. Die EU und die USA forderten eine Aufklärung des Betrugsverdachts bei der Wahl. Beobachter des Europaparlaments teilten mit, manche Wähler hätten ihre Stimme bis zu 40mal abgegeben. Washington drohte mit Einschränkungen der Kontakte zur Ukraine. US-Senator Richard Lugar sprach in Kiew von einem "konzertierten Programm zum Wahlbetrug". Bundesaußenminister Joschka Fischer forderte eine Neuzählung und bestellte den ukrainischen Botschafter ein. Der Bundestag befaßt sich heute mit der Ukraine. In Hamburg sprachen junge Exil-Ukrainer von massiven Wahlfälschungen.

Der russische Präsident Wladimir Putin, der Janukowitschs Kandidatur unterstützt hatte, betonte am Abend: "Bislang gibt es noch kein offizielles Ergebnis."