Moskaus Begründung: Für den Brauch fehlt Beamten die Zeit

Moskau. Rußland ist ein altes Land voller stolzer Bräuche. So fordert seit Jahrhunderten die orthodoxe Tradition von russischen Männern, jeden männlichen Gast durch den dreimaligen Kuß zu begrüßen. Ein Kuß des Zaren war für den Untertan eine größere Auszeichnung als jeder Orden.

In kommunistischen Zeiten trieb der KP-Generalsekretär Leonid Breschnew den Brauch in die Absurdität, indem er alle in- und ausländischen Gesprächspartner gnadenlos mit innigsten dreifachen Küssen beschenkte. Sein Ost-Berliner Satrap Erich Honecker wurde von ihm förmlich zu Boden geknutscht.

Nach der Wende kam der Kuß ins Gerede. Die freie Presse brachte die alte Begrüßung durch Kußbilder mit Anspielungen auf zunehmende Homosexualität in den Beamtenreihen in Verruf - ein sehr übler Verdacht für das konservative Publikum.

Und jetzt droht - zumindest kußtechnisch - die größte kulturelle Umwälzung seit der Oktoberrevolution 1917: Um die Effizienz aller Verhandlungen seiner Beamten zu steigern, hat das Rathaus von Moskau per Ukas allen für offizielle Treffen zuständigen Mitarbeitern ausdrücklich verboten, ihre Gesprächspartner bei der Begrüßung zu küssen. Die Regelung betrifft auch alle Sitzungen der Stadtregierung, wo statt der Erörterung kommunaler Probleme zuviel geküßt wird. Der Zeitaufwand, den die Intimitäten in wichtigen Gesprächen verursachen, sei einfach zu groß.

Eine Entfernung aller Kameraleute von offiziellen Rendezvous erwies sich aus PR-Gründen als unmöglich. So müssen die Moskauer Apparatschiks nun schweren Herzens das liebe Zeremoniell verändern. Fraglich bleibt nur, wie ein möglicher Verstoß gegen das Verbot geahndet würde.