In Frankreich werden Manager als Geiseln genommen, Londoner Bankangestellte erhalten Warn-Mails wie “Hängt die Banker!“, das Hotel Ritz ist zum...

In Frankreich werden Manager als Geiseln genommen, Londoner Bankangestellte erhalten Warn-Mails wie "Hängt die Banker!", das Hotel Ritz ist zum Gipfel vorsorglich evakuiert worden. Die Krise beschert Europa eine neue Protestwelle - und Sicherheitsexperten sehen ein enormes soziales Sprengpotenzial. Ist mit einer neuen Radikalität in der Protestkultur zu rechnen?

Für eine feste Prognose sei es zu früh, meint der Protestforscher Prof. Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin im Abendblatt-Gespräch. Bisher zeige sich noch keine neue Qualität außerhalb der bekannten Palette der Protestformen: "Zu den harmloseren Formen gehört das Blockieren von Gebäuden oder Schienen. Aber auch früher wurden schon Einrichtungen beschädigt, Autos abgefackelt oder Personen angegriffen."

Allerdings beschäftigt den Sozialforscher, wie tief die Enttäuschung bei den Menschen geht. Bei Aktionen richtet sich Kritik nicht nur gegen Banker und Wirtschaftsführer, sondern auch gegen Vertreter der Politik. Auch in Deutschland vollziehe sich bei Teilen der Demonstranten eine Änderung im Denken, sagt Rucht.

"Es ist schon so, dass grundsätzliche Zweifel und Kritik an dieser Form der Marktwirtschaft eindeutig zugenommen haben, und das sickert in breitere Bevölkerungskreise ein. Vielleicht noch nicht als Systemkritik. Aber das Vertrauen in die Eliten hat enorm gelitten, auch in die politischen Eliten."

Die Deutschen erwarten offenkundig mehr von der politischen Elite als Krisenmanagement. 43 Prozent sähen derzeit lieber Barack Obama im Bundeskanzleramt als Angela Merkel, ergab eine gestern veröffentlichte Umfrage von "Stern" und RTL. Ein rein fiktiver Wunsch, aber: "In Krisenzeiten wie dieser sehnen sich generell viele Menschen nach der starken Figur", sagt Rucht.

Das erkläre, warum die politischen Eliten "im Moment noch relativ ungeschoren davonkommen, obwohl sie ja diese Wirtschaftspolitik zu verantworten haben. Denn die Erwartung ist: Wenn es überhaupt noch jemand reparieren kann, dann diejenigen, die jetzt im Moment an der Macht sind - die müssen jetzt handeln."

Aus demselben Grund profitiere die Linkspartei noch nicht sehr stark von der Krise - sie hat keine Machtpositionen.

Gleichzeitig wachse aber auch die alternative Orientierung "Wir müssen die Dinge selber in die Hand nehmen", sagt Rucht: "Das heißt, dass der ,kleine Mann auf der Straße' seine Interessen selbst vertritt, sich mit anderen Sparern, Gewerkschaftern oder vom Abstieg Bedrohten zusammentut, auf die Straße geht und Flagge zeigt."

Ein Grund für wachsenden Unmut ist, dass viele das bisherige Krisenmanagement der Bundesregierung als ungerecht empfinden. So klagen mittelständische Unternehmer, dass sie die derzeitigen Auftragseinbrüche ohne Hilfen bewältigen sollten, während Banken, die "eine schlechten Job gemacht haben", mit dreistelligen Milliarden-Hilfen belohnt würden. Schon jetzt haben 16 900 Betriebe aus konjunkturellen Gründen Kurzarbeit angemeldet (15 700 mehr als im Februar 2008), betroffen sind 700 000 Angestellte. Die Zahl der Arbeitslosen stieg im März um 34 000 auf 3,5 Millionen. Das schlägt auf die Stimmung.

Rucht hält zunehmende Proteste im Lauf des Jahres für wahrscheinlich, auch der Ton könne sich verschärfen. "Was ich aber nicht erwarte, ist der große Volksaufstand." Die Mehrheit der Deutschen sei "eher auf die Mitte hin orientiert", auch werde sich die Krise in der Bevölkerung und in einzelnen Branchen ungleich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten auswirken. "Das heißt, es werden nicht alle gleichzeitig auf die Straße gehen."

Die Große Koalition mache es der gemäßigten deutschen Linken schwer, die eigenen Leute in Berlin anzugreifen. Anders in Nachbarländern, wo sich die gereizte Stimmung bündelt: "In Frankreich und Italien stehen die Linken klar gegen eine rechte Regierung und haben da keine Beißhemmung", sagt Rucht. In der französischen Bevölkerung gebe es generell "ein größeres Verständnis für massive Proteste als bei uns, eine größere Toleranz auch für Regelüberschreitungen". Aber der Eindruck, die Franzosen gingen praktisch jeden zweiten Tag auf die Straße, sei falsch: "In der Bundesrepublik wird öfter auf kleinerer Flamme demonstriert und in vielen Bereichen ständig 'die Luft abgelassen', während sich Ärger in Frankreich lange anstaut und dann plötzlich explodiert wie ein Dampfkessel."

In Großbritannien könnten die Krisen-Proteste deutlich radikaler werden, sagt Rucht. Während die deutschen Gewerkschaften einen bremsenden Einfluss auf Proteste ausübten, seien die britischen Gewerkschaften sehr geschwächt. "Das begünstigt linksradikale Gruppen, die in der Krise zum Zuge kommen wollen."