Sechs Jahrzehnte nach der Gründung ist die Zukunft des Bündnisses offen; Amerikaner und Europäer haben unterschiedliche Vorstellungen über den künftigen Zweck der Union.

Hamburg. Als westliche Militärexperten nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums zu bis dato streng geheimen Dokumenten Polens, Tschechiens und der DDR Zugang bekamen, muss ihnen der Schweiß ausgebrochen sein. Was in diesen Unterlagen stand, war ungeheuerlich. Hatten die Armeen der westlichen Allianz jahrzehntelang die Abwehr der riesigen östlichen Panzerkeile geübt, die etwa durch den berühmten "Fulda-Gap" stoßen sollten, so stellten sie nun fest, dass es zu dieser Abwehr nie gekommen wäre - die ganze lange geübte Strategie war hinfällig.

Die Sowjetunion hätte nämlich unmittelbar bei Kriegsausbruch 422 Atombomben allein auf die Bundesrepublik abgeworfen, 1000 Nuklearwaffen insgesamt auf Mitteleuropa. Hamburg sollte durch Wasserstoffbomben in ein strahlendes Inferno verwandelt werden. Erst danach hätte Moskau seine Armeen durch die verseuchte Wüste geschickt, um Europa in Besitz zu nehmen.

Al-Qaida hin, Taliban her - der Kalte Krieg war mit Abstand die bislang gefährlichste Phase der Weltgeschichte. Zwei gigantische Militärblöcke mit Zehntausenden Atomwaffen standen sich vier Jahrzehnte lang schussbereit gegenüber.

Die Nato wurde gegründet, weil das stalinistische Moskau mit den unterworfenen Satellitenstaaten in Osteuropa bilaterale Beistandsverträge abschloss und damit de facto einen Pakt schuf. Als der Westen darauf 1949 den Nordatlantik-Vertrag abschloss, zog der Osten 1955 mit der Gründung des Warschauer Vertrages nach. Die Atlantische Allianz wurde als Verteidigungsbündnis gegen den Expansionsanspruch der Sowjetunion etabliert. Das Prinzip der Abschreckung, fußend auf der Möglichkeit einer gegenseitigen Vernichtung, funktionierte bestens.

Prinzipiell ist der Nato bei Auflösung des Warschauer Paktes 1991 der Gegner und damit der ursprüngliche Daseinszweck abhanden gekommen. Seitdem sucht die Allianz nach neuen Aufgaben - und glaubt sie vor allem in der Abwehr des islamistischen Terrors gefunden zu haben. Der militante Islamismus trat an die Stelle des militanten Kommunismus.

Doch der Krieg gegen den Terrorismus ist nur zum Teil militärisch führbar. Zum einen heißt er ja deswegen asymmetrisch, weil hochgerüsteten regulären Armeen zumeist kleine Gruppen gegenüberstehen, die sich zudem in der Bevölkerung tarnen. Eine undankbare Aufgabe für mechanisierte Großverbände - gefragt sind eher hoch spezialisierte Eliteeinheiten mit vertieften Kenntnissen der Sprache sowie der sozialen und kulturellen Verhältnisse im Einsatzland. Wenn die Nato überleben will, muss sie sich strukturell weiter reformieren.

Zudem gleicht der rein militärische Kampf gegen den Terrorismus dem Versuch, eine Krankheit zu besiegen, indem man die Symptome lindert. Eine vernetzte Strategie der Nato in diesem globalen Krieg, inklusive eines zivilen Ansatzes zur Verbesserung der Lebensbedingungen etwa in Afghanistan, verändert aber ihren Charakter.

Hinzu belasten prinzipielle Unterschiede in den Einschätzungen in Europa und Amerika die Zukunft der Nato. Zum Beispiel bezüglich der Rolle Russlands.

Auf dem alten Kontinent hat man begriffen, dass Sicherheit ohne oder gar gegen Russland nicht funktionieren kann. In Washington ist immer noch der alte Reflex lebendig, Moskau als Gegner zu betrachten. Die Strategie, Russland militärisch einzukreisen und systematisch zu demütigen, war einer der schwersten Fehler der Bush-Administration. Dazu gehören die Ausdehnung der Nato bis an die russische Grenze - unter Einbeziehung der antirussischen Staaten Ukraine und Georgien -, die Einrichtung von US-Basen an der Südflanke Russlands wie in Kirgistan und auch das Projekt einer Raketenabwehr in Polen und Tschechien.

Für Washington ist die Nato immer noch auch ein Instrument zur Eindämmung Moskaus, während vor allem Deutsche und Franzosen an einer gesamteuropäischen Sicherheit unter Einbeziehung Russlands arbeiten.

Zudem betrachten die USA die Nato als global einsetzbares Instrumentarium zum Schutz westlicher Interessen - als eine Art "Weltpolizei". Auch dagegen haben die meisten Europäer ganz erhebliche Vorbehalte.

Ihre inzwischen unscharf definierte Aufgabenstellung bringt die Nato sicherheitspolitisch in Rivalität zur EU, die militärisch längst eigene Interessen entwickelt. Und mit dem neuen zivilen Ansatz in Konkurrenz zur Uno.

Als antikommunistisches Verteidigungsbündnis mit Massenheeren hat die Allianz ausgedient. Ob sie am Ende als bewaffnete Weltpolizei überlebt oder doch eher als politisch orientierte Wertegemeinschaft bewaffneter Demokratien - die Zukunft der Nato ist offen.